Storks Spezialfutter: Die EU findet zurück zur Natur
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.
Alles ganz schön viel gerade: Krieg in Israel und Gaza, Krieg in der Ukraine, Haushaltssperre, Energiekrise, Inflation, immer tiefere Risse in der Gesellschaft. Und im Hintergrund poltert der Klimawandel, dieses Monster, das bei Untätigkeit immer furchterregender wird. Noch was? Ach ja: die Biodiversitätskrise. Jahr für Jahr geht mehr wertvoller Lebensraum verloren, verschwinden mehr Arten zu Land und zu Wasser – weltweit, aber auch bei uns.
Die »Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt« ist seit 2007 Deutschlands wichtigstes Werkzeug, um diesen Trend zu drehen: Bis 2020 sollte unter anderem der Anteil gefährdeter Arten deutlich sinken (von 23 Prozent auf 15 Prozent), alle Bäche, Flüsse, Seen und Küstengewässer in einen guten ökologischen Zustand versetzt werden, und es sollte sichergestellt werden, dass sich die Bestände vieler Vogelarten deutlich erholen.
Ein dickes Brett, in das man über die vergangenen 16 Jahre hinweg ein geradezu lächerliches Loch gebohrt hat. Keines der Ziele wurde erreicht. Im Bereich Artenvielfalt und Landschaftsqualität hat sich in den vergangenen zehn Jahren »der Indikatorwert signifikant verschlechtert«, ergab eine aktuelle Bestandsaufnahme. Bei den Gewässern sind nach wie vor nur 9 statt der geforderten 100 Prozent in einem guten ökologischen Zustand, und der ökologische Landbau findet nur auf knapp 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche statt. Weit weg von den geforderten 30 Prozent.
Deshalb wurde als neue Ziellinie einfach 2030 ausgegeben. Beim Natur- und Artenschutz hat die Politik einen ausgeprägten Hang zur Prokrastination. Und wie das so ist mit dem ständigen Aufschieben: Durch die lange Untätigkeit wird die zu erledigende Aufgabe immer größer. Im jüngsten Indikatorenbericht zur Nationalen Biodiversitätsstrategie ist immer wieder zu lesen, dass die Zielvorgaben nur mit »erheblichen zusätzlichen Anstrengungen« erreicht werden können.
EU fordert umfassende Renaturierung
»Erhebliche zusätzliche Anstrengungen« – das ist nicht unbedingt das, wonach die Bevölkerung in diesen Zeiten giert.
Vor diesem emotionalen Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass es die EU in diesen Tagen geschafft hat, ein Renaturierungsgesetz auf den Weg zu bringen, das dann auch die rechtlich verbindliche Klammer für die deutsche Biodiversitätsstrategie sein wird.
Die EU-Kommission hatte im Sommer 2022 einen entsprechenden Vorschlag veröffentlicht, der anschließend den Gang durch die Institutionen nahm und mehrfach verändert wurde. Im November einigten sich Kommission, Rat und Parlament äußerst knapp auf einen abgeschwächten, aber immer noch sehr substanziellen Kompromissvorschlag. Im Umweltausschuss wurde am 29. November die vorletzte Hürde genommen. Im letzten Schritt vor der offiziellen Veröffentlichung wird das EU-Renaturierungsgesetz wahrscheinlich im Februar 2024 im Europaparlament zur Abstimmung gestellt. Dann müssen die Staats- und Regierungschefs der EU im Europarat noch ihre endgültige Zustimmung erteilen. Dies wird voraussichtlich im März 2024 der Fall sein.
»Selbst in der abgeschwächten Version ist das EU-Renaturierungsgesetz extrem wichtig«, sagt Leonie Pilgram, Fachreferentin für Natürlichen Klimaschutz von der Deutschen Umwelthilfe (DUH). »Erstmals bekommen wir eine verbindliche Rechtsgrundlage für Renaturierungsprojekte in den Mitgliedsstaaten, und die EU zeigt, dass sie ihre internationalen Verpflichtungen aus dem Biodiversitäts-Rahmenabkommen ernst nimmt.«
Die 28. Weltklimakonferenz (COP28)
Vom 30. November bis zum 12. Dezember 2023 treffen sich die Vertreter von Regierungen, Unternehmen und NGOs in Dubai, um zum 28. Mal über den Klimaschutz zu beraten. Alle Infos zur Konferenz finden Sie in unserem Blog und auf unserer Themenseite.
Bis 2030 sollen mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU geschützt und bis 2050 alle reparaturbedürftigen Ökosysteme wiederhergestellt werden. Gemeint sind damit vor allem die so genannten Natura-2000-Schutzgebiete, die in der EU ohnehin schon 18 Prozent der Landes- und 7 Prozent der Meeresflächen umfassen. Nach Angaben der EU-Agentur EEA sind europaweit etwa 260 000 Quadratkilometer an geschützten Gebieten wiederherstellungsbedürftig. Das entspricht etwa 70 Prozent der Landfläche von Deutschland.
Umweltschutz für kleines Geld
Das alles wird nicht ganz kostenlos zu haben sein, aber fast: Beispielsweise werden in der Haushaltsplanung des Bundesumweltministeriums für das Jahr 2024 für Ausgaben in Natur- und Umweltschutz rund 460 Millionen Euro veranschlagt. Das sind freilich nicht die einzigen Mittel, die in den Schutz der bedrohten Natur fließen, aus dem Fördertopf des »Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz« sollen über die kommenden Jahre bis zu vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Aber an den grundsätzlichen Dimensionen ändert das nichts. Allein für die Posten Bundesfernstraßen und Bundesschienenwege werden im kommenden Jahr fast 25 Milliarden veranschlagt, das Budget des Verteidigungsministeriums beläuft sich auf 52 Milliarden Euro.
Die Natur schöpft keinen unmittelbaren Wohlstand, sie beschäftigt auch nicht so viele Menschen, trotzdem ist sie von unschätzbarem, unterschätzten immateriellen Wert. Dass die EU das anerkennt und jetzt wirksamen Schutz ins Gesetz schreiben will, ist umso wichtiger, da das Zeitfenster für Reformen im Umweltsektor immer kleiner wird: 2024 finden Europawahlen statt. Wie es aussieht, werden konservative und rechte Kräfte auch in der EU zulegen. Dass dann noch ambitionierte Vorhaben für Natur-, Klima und Umwelt angeschoben werden können, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Europäische Volkspartei EVP unter dem Vorsitz von Manfred Weber (CSU) hatte in den vergangenen Monaten bereits gegen das Renaturierungsgesetz mobil gemacht, und zwar so vehement, dass sich mehr als 3000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen veranlasst sahen, den Gesetzentwurf öffentlich zu unterstützen. Dass die EVP und andere Parteien von ihrem anachronistischen Kurs abweichen werden, ist nicht zu erwarten. Dass sich die europäische Umwelt ohne unser Zutun erholt, auch nicht.
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