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Storks Spezialfutter: Kleben bleiben bei der Verkehrswende

Im Grunde haben sie ja Recht, die Klimakleber, findet unser Kolumnist Ralf Stork. Denn so unambitioniert die Verkehrspolitik ist, so zäh kommt sie voran.
Eine rote Ampel in Herzform
Unter Klimaaktivisten wie im Kanzleramt: In Berlin scheint man derzeit den Stillstand zu mögen.
Der Welt steht ein Umbruch bevor – ob die Menschheit will oder nicht: Landwirtschaft, Verkehr und Energiegewinnung müssen nachhaltig und fit für den Klimawandel werden, gleichzeitig gilt es, eine wachsende Weltbevölkerung mit wachsenden Ansprüchen zu versorgen. Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Und was für die Umwelt und die Lebewesen darin?
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.

In Berlin sind dieser Tage besonders viele Klimaaktivisten und -aktivistinnen unterwegs. Junge Menschen, die sich mit Klebstoff an der Fahrbahn festkleben, um so auf die Klimaerwärmung aufmerksam zu machen und auf die negative Rolle, die der Autoverkehr dabei spielt. Die Tätigkeit des Klimaklebens und damit auch das Wort selbst sind verhältnismäßig jung. Keine zwei Jahre ist es her, dass die erste Aktivistenhand schwer löslich am Asphalt pappte. Mittlerweile ist das Phänomen so verbreitet, dass man auch in Internetforen zum Thema Klebstoff, die mit Aktivismus rein gar nichts zu tun haben, nachlesen kann, welche Klebstoffe beim Ankleben von Körperteilen bevorzugt zum Einsatz kommen und welche gesundheitlichen Gefahren sie bergen.

Besonders beliebt macht sich »Die Letzte Generation« mit ihren Aktionen bei den Autofahrerinnen und -fahrern nicht. Ein sehr wütender Verkehrsteilnehmer hat bereits eine Dose Reizgas gegen die jungen Leute gezückt. Auch der Liveticker, den eine Berliner Boulevardzeitung zu den Verkehrsstörungen eingerichtet hat, meldet Übergriffe auf Straßenblockierer.

Angesichts der unversöhnlichen Lage auf den Berliner Straßen lohnt vielleicht ein genauerer Blick auf den Stand der Verkehrswende in Deutschland und speziell in der Hauptstadt.

Zunächst einmal: Dass sich die Mischung viele Autos / große Stadt noch nie sonderlich gut vertragen hat, erkennt man daran, dass die Forderung nach der »autogerechten Stadt« schon ihre 60 Jahre auf dem Buckel hat. Dabei fuhren im Jahr 1960, als diese Idee gerade im Kommen war, deutschlandweit nur knapp viereinhalb Millionen Autos auf den Straßen. Heute zwängen sich knapp 50 Millionen in den Städten durch Straßen, die für eine solche Verkehrslast nie geplant waren. Wie wenig Klebstoff es braucht, um in der Stadt einen Verkehrsinfarkt herbeizuführen, zeigt sich schon an den aktuellen Störungen. Aber auch ohne die Aktivisten stehen Pendler in München pro Jahr 74 Stunden und in Berlin 71 Stunden, also fast drei ganze Tage, im Stau.

Die Fahrzeugflotte wächst. Und wächst. Und wächst

Nun sollte man vermuten, dass solche Probleme aus der klimasorglosen Vergangenheit allmählich angegangen würden. Tatsächlich jedoch wuchs in den zurückliegenden zehn Jahren die Fahrzeugflotte kräftig weiter – obwohl der Klimawandel längst in der öffentlichen Aufmerksamkeit angekommen war und obwohl die Probleme der vielen Autos in der Stadt nicht zu übersehen waren: Deutschlandweit wurden es fünf Millionen Autos mehr, und in Berlin kamen, trotz gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs, knapp 100 000 hinzu. Aus 1,149 Millionen (2013) wurden 1,243 Millionen (2023).

Autos verbrauchen viel Platz: Wenn 1000 Menschen mit dem eigenen Wagen in die Stadt fahren wollen, verstopfen 1000 Autos erst die Straßen und dann beim Parken den öffentlichen (Park-)Raum. In Berlin würden 1000 Menschen aber auch bequem in eine S-Bahn passen. Dann gäbe es mehr Platz für Fahrradfahrer und Fußgänger, es gäbe weniger Lärm und weniger gesundheitliche Gefährdungen durch Feinstaub und Abgase. Autos werden im Schnitt gerade mal eine Stunde am Tag bewegt, meistens nur von einer Person. All das ist nicht besonders ressourcenschonend und gut für die Umwelt schon mal gar nicht.

Statt gegenzusteuern, hat die Bundesregierung aber offenbar beschlossen, die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Wie der Projektionsbericht gerade erst gezeigt hat, werden die selbst gesteckten Klimaziele der Bundesregierung im Verkehrssektor deutlich gerissen. Bis zum Jahr 2030 wird der Verkehr 210 Millionen Tonnen CO2 mehr verursachen als geplant.

Bequem fahren vs. bewusst fahren

Die Politik kommt ihrer Verantwortung in Sachen Verkehr also nicht nach. Mit Sicherheit auch, weil die Gesellschaft als Ganzes offensichtlich nicht an einer klimafreundlichen Verkehrswende interessiert ist. Zumindest nicht, wenn es konkret wird. Am stärksten nachgefragt werden ausgerechnet die Automodelle, die für die Umwelt und definitiv auch für den Stadtverkehr am schlechtesten sind: Der Anteil der SUV am Individualverkehr ist von 4,9 Prozent (2012) auf 16,1 Prozent (2022) gestiegen. Bei den Neuzulassungen machen die schweren Geländewagen sogar rund 40 Prozent aus, meldet der ADAC. Das starke Wachstum geht ausgerechnet auf Kosten der Kleinwagen und der Kompaktklasse, die mit geringem Verbrauch und geringerer Größe Umwelt, Klima und Stadtmenschen deutlich weniger belasten würden.

Beim Kauf eines Autos entscheidet sich die große Mehrheit also lieber für Bequemlichkeit und Sicherheit als für Klimabewusstsein: Im SUV sitzt man schön hoch, man kann bequem einsteigen, und bei einem Unfall mit einem Nicht-SUV zieht wahrscheinlich der andere den Kürzeren.

Wegen der vielen SUV im Straßenverkehr kommen immer wieder Überlegungen auf, dass die Parkplätze verbreitert werden müssten. Im Straßenraum kann das nur auf Kosten der übrigen Verkehrsteilnehmer gehen. In Berlin hat die schwarz-rote Regierung schon mal alle Planungen für neue Radwege auf Eis gelegt. Außerdem will sie das Mobilitätsgesetz ändern: Bislang sollen Radwege so breit konzipiert sein, dass sich Räder problemlos überholen können. Muss nicht sein, findet die Stadtregierung. Und überhaupt brauche ja nicht jede Hauptverkehrsstraße unbedingt einen Radweg.

Fassen wir noch mal zusammen: Der Klimawandel wird immer spürbarer und immer bedrohlicher. Die Politik verspricht Gegenmaßnahmen – wenn auch im Verkehrssektor nicht sonderlich ambitionierte –, hält aber ihre Versprechen nicht. Die Gesellschaft verschlimmert das Problem, weil sie bei ihren Konsumentscheidungen das eigene Wohlbefinden über das Wohlergehen der künftigen Generationen stellt. Und einige Länder und Kommunen wie beispielsweise Berlin vollziehen eine rückwärtsgerichtete Verkehrswende zur autogerechten Stadt.

Der Ort für Proteste gegen eine verfehlte Klima- und Verkehrspolitik könnte jedenfalls schlechter gewählt sein. Auch wenn ich kein Freund der radikalen Protestformen der »Letzten Generation« bin, die Verzweiflung der jungen Menschen und ihre daraus entspringende Entschlossenheit kann ich schon nachvollziehen. Schließlich müssen sie ja noch viele Jahrzehnte mit dem Schlamassel leben, den andere Generationen verursacht haben und offensichtlich weiter zu verursachen bereit sind.

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