Storks Spezialfutter : »In der Landwirtschaft hat ein richtiger Rollback stattgefunden«
Jedem Anfang soll ja bekanntlich ein Zauber innewohnen, auch der Übernahme der EU-Kommissionspräsidentschaft durch Ursula von der Leyen im Jahr 2019. Wären alle ihre Vorhaben von damals konsequent umgesetzt worden – Europa wäre heute ein leuchtendes Vorbild in Sachen Klimapolitik, Landwirtschaftstransformation, Natur- und Artenschutz. Kein Geheimnis ist, dass der Zauber inzwischen längst verflogen ist und dabei einen merkwürdigen Geruch nach Diesel über Brüssel hinterlassen hat. Viele der mit großen Ambitionen gestarteten Projekte wurden entweder verwässert oder gleich komplett begraben.
Durch die Europawahl vom 9. Juni 2024 haben sich die Mehrheiten im EU-Parlament wieder verschoben. Was bedeutet das für die Umweltpolitik? Und wie kam es, dass die großen Leuchtturmprojekte des »Green Deal«, der von der Leyen auf die Beine gestellt hatte, zu Fall gebracht wurden? Für diese Kolumne habe ich darüber mit vier Fachleuten vom NABU, WWF, BUND und Deutscher Umwelthilfe gesprochen und ihre Ansichten erfragt. Eines vorweg: So düster, wie es manche politischen Kommentatoren diese Woche taten, blicken die vier nicht nach Brüssel – zum Beispiel, was Klimapolitik betrifft.
Dass vor vier Jahren die neue Präsidentin von der Leyen einen sehr vielversprechenden Auftakt machte, auch darüber sind sich alle einig: »Mit dem Green Deal gab es erstmals eine umfassende Strategie, die alle relevanten Bereiche von der Industrie bis zur Landwirtschaft abdeckte«, sagt zum Beispiel André Prescher-Spiridon, der beim BUND für die EU-Politik zuständig ist. Auch Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, betont die Bedeutung des Green Deal als »klar definiertes Projekt« zur Transformation in den drei Säulen Klima- und Energiepolitik, Kreislaufwirtschaft, Naturschutz.
In dieser Hinsicht reißt das Lob kaum ab: Konstantin Kreiser, Fachbereichsleiter Naturschutz beim NABU, stellt die Bedeutung der Landwirtschafts- und Ernährungsstrategien heraus. »Damit konnte die EU beim Naturschutz global Standards setzen, auch für das Weltnaturabkommen von Montreal«, sagt Kreiser. Unter dem Schlagwort »Farm to Fork« sollte die Nahrungsmittelproduktion in der EU gerechter, gesünder und umweltfreundlicher werden.
Anna Holl-Buhl, Expertin für EU-Politik beim WWF, zählt die Farm-to-Fork-Strategie ebenfalls zu den zwei wichtigen Punkten des Green Deal, insbesondere weil die EU ursprünglich einmal die Absicht verfolgte, eine nachhaltigere Nahrungsmittelproduktion gesetzlich zu fixieren. Punkt zwei sei das Renaturierungsgesetz, durch das schon ab 2030 ein Fünftel der Landfläche unter Schutz hätten stehen sollen. »Die beiden Vorhaben hätten einen nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen und Flächen in der Breite verankert«, sagt Holl-Buhl.
Stark gestartet, stark nachgelassen
Dauerhafte, eindeutige Fortschritte sehen die vier Fachleute jedoch lediglich im Bereich Klima- und Energiepolitik, zum Beispiel durch das EU-Klimagesetz und das beschlossene Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035. In der Naturschutz- und Landwirtschaftspolitik dagegen habe dagegen ein »richtiger Rollback« stattgefunden, sagt Konstantin Kreiser. Angesichts teils gewalttätiger Bauernproteste seien nicht nur Ambitionen erlahmt, sondern »es wurden die Fortschritte bei den Umweltstandards mindestens der letzten Förderperiode fast vollständig zurückgedreht« – sprich: ein Rückfall in die Zeit vor 2014.
Auf den Punkt nachhaltige Ernährungsweise sei von der Leyen im September 2023 in ihrer Rede zur Lage der Nation schon gar nicht mehr eingegangen, beklagt Holl-Buhl. »Starke Kritik an den Vorhaben kam ausgerechnet von der EVP, von von der Leyens eigener Fraktion.«
Gescheitert ist die Pestizidverordnung, das Renaturierungsgesetz steht auf der Kippe. Über seine Zukunft soll nun am 17. Juni abgestimmt werden, der Ausgang ist völlig offen.
Populistischer Wahlkampf der EVP
Für den Kurswechsel machen die vier Fachleute eine geänderte gesellschaftliche Haltung gegenüber Umweltthemen verantwortlich – und die Entscheidung, insbesondere seitens der EVP, diesen Wandel wahltaktisch auszuschlachten. »Über die Unterstützung der vermeintlichen Forderungen der Landwirte versucht man Landwirte und allgemein die ländliche Bevölkerung stärker an sich zu binden«, sagt Prescher-Spiridon. Der Ton sei »nicht selten rau bis populistisch« gewesen, meint Holl-Buhl. Von »politischem Radau« spricht gar Sascha Müller-Kraenner. »Emotionale Kulturkampfthemen« wie Wolfsübergriffe würden sich gut für den Wahlkampf nutzen lassen.
Doch auch die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine samt der damit ausgelösten Energiekrise dürften einen Stimmungswandel in der Gesellschaft ausgelöst haben. »(2019) hatte Fridays for Future den größten Zulauf, die Menschen sorgten sich um die Insekten, in Bayern und anderen Bundesländern gab es erfolgreiche Volksbegehren nach dem Motto ›Rettet die Bienen‹«, sagt Konstantin Kreiser. Dann trafen neue, vielfältige Krisen Europa. Kreiser: »Der Krieg wurde aber auch zum Teil instrumentalisiert, um unter dem Schlagwort ›Ernährungssicherheit‹ Auflagen für den Erhalt von Subventionen abzuschaffen, wie zum Beispiel den Erhalt von insektenfreundlichen Brachen. Die Ernährungsindustrie, Dünge- und Pestizidhersteller lobbyierten hart und erreichten gerade über die EVP diese Kehrtwende.«
Klimapolitik lässt sich nicht kippen
Obwohl das neue EU-Parlament ein ganzes Stück nach rechts gerückt ist und Parteien, die den Green Deal ganz oder teilweise ablehnen, Gewinne verzeichneten – eine Kehrtwende in der Klimapolitik werde es nicht geben, prognostizieren die vier Experten. Unter anderem, weil Teile der Wirtschaft selbst längst erkannt hätten, dass es einen Umstieg auf erneuerbare Energien geben müsse. »Die wünschen sich einen klaren Kurs mit verlässlichen Regeln, die ihnen Planbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext ermöglichen und sind in diesem Punkt oft schon weiter als die Politik«, sagt Anna Holl-Buhl vom WWF. Klimaschutz stärker als bisher mit Industriepolitik, Standortsicherung und Wettbewerbsfähigkeit zu verknüpfen, sei »okay, wenn das zu einer weiteren ökologischen Modernisierung der Wirtschaft führen sollte«, findet Müller-Kraenner.
Wackeln sieht Konstantin Kreiser vom NABU am ehesten das Aus für Verbrennungsmotoren: »Es wird den Versuch geben, dieses gewissermaßen als politische Trophäe der Wahlgewinnerin EVP wieder zu kassieren. Das wäre ein fahrlässiger Schritt zurück in die Vergangenheit.«
Düstere Aussichten für Natur- und Artenschutz
Mit weniger Optimismus blicken die vier auf die Politikfelder Landwirtschaft und Naturschutz: »In den kommenden Jahren wird es deutlich schwieriger werden, ambitionierte Naturschutz- und Umweltschutzziele durchzubekommen«, sagt André Prescher-Spiridon (BUND). Die EVP hat in ihrem Wahlprogramm eine Veränderung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie stehen, dem erfolgreichen Eckpfeiler des europäischen Naturschutzes seit Mitte der 1990er Jahre. »Diese Richtlinie mit dem Argument abschwächen zu wollen, sie behindere die wirtschaftliche Entwicklung, ist schon sehr bedenklich«, sagt Prescher-Spiridon.
»Im Bereich Naturschutz und Landwirtschaft mache ich mir große Sorgen«, sagt Sascha Müller-Kraenner. »Wenn man aber die Richtlinie neu bearbeitet, um zum Beispiel den Schutzstandard von Wolf, Bär und Fischotter abzuschwächen, besteht immer die Gefahr, dass noch weitere Bereiche abgeschwächt oder ganz gestrichen werden.«
Konstatin Kreiser (NABU) fürchtet, dass es vor allem kleineren Betrieben, die naturverträglich wirtschaften wollen, in Zukunft schlechter gehen werde: Sie hätten einen Wettbewerbsnachteil, wenn die EU die Agrar- und Ernährungsindustrie von Auflagen befreit und gleichzeitig länger als geplant an »Gießkannensubventionen« nach Fläche festhalte.
Optimismus zum Schluss
Auch nach Gründen für Optimismus habe ich die vier Fachleute gefragt. Fast einhellig haben sie darauf verwiesen, dass allen Zugewinnen am rechten Rand zum Trotz die Demokraten die Mehrheit im Parlament stellen. Kreiser etwa hofft, »dass man aus dem Wahlkampfmodus herausfindet und zu einer verantwortungsvollen Politik für Natur, Klima und eine nachhaltige Wirtschaft zurückkehrt.«
Es sei ja laut Umfragen nach wie vor der Fall, dass Fragen zu Klima, Umwelt und Natur eine zentrale Bedeutung für das Leben der Europäerinnen und Europäer hätten, sagt Holl-Buhl. »Parteien, die dafür keine Lösungen haben oder die Probleme gar nicht sehen wollen, werden es in Zukunft immer schwerer haben.«
Ähnlich sieht es Müller-Kraenner: »Die faktischen Probleme in der Landwirtschaft – Artensterben, Höfesterben, geringes Einkommen – werden durch das Verwässern der Umweltauflagen ja nicht verschwinden. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass diese rückwärtsgewandte Politik keinen Bestand haben wird.«
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