Supraleitung: Mögliches Wundermaterial sorgt für Euphorie und Enttäuschung
Zunächst schien es, als wäre in der Materialwissenschaft eine Sensation gelungen. Am 22. Juli hat eine Forschungsgruppe aus Korea zwei Dateien auf dem Preprint-Server arXiv hochgeladen. Der Server dient zur Vorabveröffentlichung (Preprints) von Artikeln, die noch keinen Begutachtungsprozess durchlaufen haben, wie er im Rahmen einer Publikation in einer Fachzeitschrift üblich ist. Der Titel der ersten Arbeit, »The First Room-Temperature Ambient-Pressure Superconductor«, lässt sich frei übersetzen mit »Wir haben den Heiligen Gral gefunden!«. Denn nichts weniger ist für die Festkörperphysik, was die Forscher behaupteten: Sie hätten das erste Material hergestellt, das bei Raumtemperatur und Umgebungsdruck supraleitend ist.
Supraleiter sind Stoffe, durch die Strom völlig ohne Widerstand fließt. Der erstaunliche Effekt ist nur quantenmechanisch zu erklären. Solche Materialien gibt es heute bereits, und sie ermöglichen nützliche Anwendungen. So kann ein Supraleiter extrem starke Magnetfelder hervorrufen. Wer schon einmal für eine medizinische Untersuchung in einem Kernspintomografen lag, kennt den hämmernden Lärm, der dabei entsteht. Er stammt von starken Kräften, die im enormen Feld des Supraleiters auf die Spulen wirken. Auch leistungsfähige Teilchenbeschleuniger arbeiten mit supraleitenden Magneten. Der Haken: In jedem Fall müssen die Bauteile auf niedrigste Temperaturen gekühlt werden, meist mit flüssigem Helium oder im Fall so genannter Hochtemperatur-Supraleiter mit dem billigeren flüssigen Stickstoff. »Hochtemperatur« ist relativ – Flüssigstickstoff ist immer noch rund minus 200 Grad Celsius kalt.
Deswegen wäre ein Material ungeheuer nützlich, das unter Alltagsbedingungen ein Supraleiter ist. Die Ladungsträger könnten sich ohne jedwede Kühlung frei durch das Material bewegen und beispielsweise verlustfrei Strom über große Distanzen transportieren. Genau so eine Wunderverbindung behaupteten die koreanischen Forscher gefunden zu haben. Das allein wäre ein nobelpreiswürdiger Geniestreich. Obendrein sollte der LK-99 genannte Stoff nach einer sehr einfachen Rezeptur herzustellen sein, man müsste nur bestimmte blei-, kupfer-, sauerstoff- und phosphathaltige Materialien vermischen und in einem Ofen erhitzen.
Zu schön, um nicht wahr zu sein
Zwei der Autoren, Sukbae Lee und Ji-Hoon Kim, haben das Material erstmals 1999 konzipiert und deswegen LK-99 genannt. Nach ihrer Hypothese soll es etwas anders funktionieren als bekannte Supraleiter. Bei Letzteren werden Elektronen entweder durch extrem niedrige Temperaturen oder durch immensen Druck dazu befähigt, sich gewissermaßen an dem Kristallgiter vorbeizuschmuggeln, das sie umgibt. In normalen elektrischen Leitern wie Kupfer kollidieren die Ladungsträger immer wieder mit Gitteratomen, wodurch sie Energie verlieren. Deswegen wird ein stromdurchflossener Draht heiß. In Supraleitern hingegen finden sich die Elektronen bei den richtigen Verhältnissen zu so genannten Cooper-Paaren zusammen. Als solche nehmen sie einen gemeinsamen quantenmechanischen Zustand ein, in dem das Kristallgitter sie nicht mehr stören kann. Die drei Autoren der nach ihren Initialen BCS-Theorie genannten Erklärung erhielten dafür 1972 den Nobelpreis für Physik. Bei modernen Hochtemperatur-Supraleitern ist allerdings noch immer nicht abschließend geklärt, warum sie funktionieren. Das lässt viel Spielraum für Theorie und Experiment, den die koreanischen Forscher weidlich genutzt haben.
LK-99 soll weder niedrige Temperaturen noch äußere Drücke benötigen, weil Lee und Kim zufolge der mikroskopischen Struktur des Materials bereits ein molekularer innerer Druck eingeprägt ist: Entlang von hypothetischen »Quanten-Senken«, bei denen Kupferatome einzelne Bleiatome verdrängen und lokal das Gitter zusammenquetschen, hüpfen die Elektronen ungestört durch das Kristallgitter. Doch schon oft haben Fakten die schönste Theorie zunichtegemacht. Welche Daten sollten also das »historische Ereignis, das eine neue Ära für die Menschheit einläutet« – so die Autoren in ihrer Vorabveröffentlichung – untermauern? Besonders ein Video erregte Aufmerksamkeit, das von Teammitglied Hyun-Tak Kim am 25. Juli auf die Austauschplattform ScienceCast hochgeladen wurde. Es zeigt ein Stück von LK-99, das auf einem Magneten schwebt. So ein Verhalten ist für Supraleiter typisch, die äußere Magnetfelder aus ihrem Inneren herausdrängen (der so genannte Meißner-Ochsenfeld-Effekt). Das Phänomen ist imposant und fester Bestandteil etlicher Praktika im Physikstudium, aber es muss nicht zwangsläufig auf Supraleitung beruhen. Auch viele klassische Materialien zeigen es. Solche »Diamagneten« können alles Mögliche sein, sogar Frösche wurden bereits 1997 medienwirksam in starken Magnetfeldern in der Schwebe gehalten.
Abgesehen vom levitierenden Bröckchen präsentierten die Autoren die Ergebnisse von Messungen zu verschiedenen Materialeigenschaften. Ein charakteristisches Merkmal von Supraleitung ist eine »Sprungtemperatur«. Bei diesem kritischen Wert fällt beispielsweise der elektrische Widerstand plötzlich auf null. Bei bekannten Supraleitern sind starke Minusgrade erforderlich, bei LK-99 soll die Sprungtemperatur bei sensationellen 105 Grad Celsius liegen. Bei der Ermittlung der Sprungtemperatur spielt neben der direkten Messung der Leitfähigkeit die Bestimmung der Wärmekapazität im Verhältnis zur Temperatur eine Rolle. Auch diese Debye-Temperatur zeigt bei Supraleitern ein sprunghaftes Verhalten. Kim und Lee gestehen aber ein, dass eine solche Ermittlung bei LK-99 nicht möglich war, vorgeblich wegen des besonderen hypothetischen Mechanismus der Quanten-Senken.
Ein wenig Hoffnung unter viel Kritik
Interessanterweise veröffentlichten Lee und Kim bereits im April 2023 Messergebnisse in einem koreanischen Fachjournal, die bis zum Zeitpunkt der englischsprachigen Preprints jedoch kaum beachtet wurden. Hier findet sich dann auch eine Datenreihe zur spezifischen Wärme mit einem Übergang bei einer kritischen Temperatur. Abgesehen davon, dass das nicht zu den im Juli getroffenen Aussagen zu passen scheint und dieser Widerspruch nicht aufgelöst wird – könnte also dennoch etwas dran sein?
Allerdings sind ebenso die Daten zur Leitfähigkeitsmessung, die im zweiten Paper vom Juli präsentiert werden, suspekt. Der Widerstand fällt unterhalb der Sprungtemperatur von 105 Grad Celsius nicht auf null, sondern auf einen Wert deutlich darüber. Erst zwischen 90 und 60 Grad sinkt er allmählich weiter. Das ist kurios und erhärtet den Verdacht, dass es sich lediglich um ein diamagnetisches Material und einen relativ normalen Übergang von einem Nichtleiter zu einem Leiter handelt.
Trotzdem bleibt die Möglichkeit offen, dass es tatsächlich ein Supraleiter ist, dessen ungewöhnlicher Mechanismus über die Quanten-Senken für die untypischen Messdaten sorgt. Doch gerade bei Supraleitung lag auf dem Feld der Festkörperphysik schon so manche Mine, und alle Fachleute sind entsprechend vorsichtig. Die Veröffentlichung von Lee und Kim fällt in eine Zeit, in der sich der ehemals für seine Entdeckungen zur Supraleitung gefeierte Forscher Ranga Dias nun scharfer Kritik und Vorwürfen der Datenmanipulation gegenübersieht. Gleichzeitig zur Veröffentlichung von Lee und Kim wurde bekannt, dass eine weitere hochrangig publizierte Arbeit von Dias zurückgezogen werden muss.
Vor allem bleiben Ungereimtheiten
Außergewöhnliche Behauptungen erfordern, so eine vom US-Astronomen Carl Sagan geprägte Wendung, außergewöhnliche Beweise. Die Herstellung eines Materials, das unter Normalbedingungen supraleitend ist, wäre eine der bedeutsamsten Entdeckungen in der Materialwissenschaft überhaupt. Angesichts dessen irritiert, dass die Veröffentlichungen der koreanischen Forscher nicht ausgereift wirken, sondern widersprüchlich und insgesamt überhastet – obwohl das Team offenbar seit mehr als zwei Jahrzehnten an LK-99 gearbeitet hat.
Das muss nicht gegen das Material an sich sprechen. Es mag einer Kurzschlusshandlung geschuldet sein, etwa aus Furcht, angesichts des einfachen Herstellungsprozesses könnte der Gruppe jemand zuvorkommen. Allerdings ist LK-99 bereits zum Patent angemeldet. Der erste im Juli veröffentlichte Preprint listet nur drei Autoren auf (neben Lee und Kim noch Young-Wan Kwon von der Korea University in Seoul), das zweite, zwei Stunden später hochgeladene dann sechs. Das lud viele beim Kurznachrichtendienst Twitter zu Spekulationen ein: Ist das ein hastiger Versuch zur Sicherung der Priorität, da der Nobelpreis unter höchstens drei Personen geteilt werden kann?
Jedenfalls dürfte es nicht lang dauern, bis Labore unabhängige Bestätigungen oder Widerlegungen der Beobachtungen liefern. Die Chancen sind gewaltig, der Einsatz wegen des einfachen Rezepts gering. Erste Enthusiasten berichteten schon wenige Tage später von ihren Versuchen, LK-99 nachzubauen. Und falls es kein Supraleiter sein sollte, könnte das Material als Vertreter einer potenziell neuartigen Klasse von Diamagneten dennoch sowohl für die Forschung als auch für Anwendungen nützen.
Meissner effect or bust. Day 2
— Andrew McCalip (@andrewmccalip) July 28, 2023
An absolute emotional rollercoaster. We've been back so many times, I've lost count
The first reaction to make Lanarkite (PbO + PbSO4) is running in the furnace! We opted to do 80% in an open air alumina crucible and 20% in a sealed quartz tube pic.twitter.com/7km6Lc1C1Y
Wenn eine Meldung zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist sie es allzu oft auch. Überzogene Erwartungen und unhaltbare Verkündungen können das Vertrauen in den Wissenschaftsbetrieb erschüttern, wie das Beispiel Ranga Dias zeigt. Bei jemandem, der schon viele Enttäuschungen in der Materialforschung erlebt hat, klingeln angesichts der angeblichen Entdeckung des koreanischen Wundermaterials alle Alarmglocken. Glücklicherweise hat es dieses Mal nur wenige Tage gedauert, die Schwächen bei der Darstellung herauszufinden – dafür waren sie zu zahlreich und offensichtlich. Die Gemeinschaft hat die Preprints in den sozialen Medien in kürzester Zeit einem gnadenlosen Peer-Review-Prozess unterzogen. Trotzdem behält sie sich ein Quäntchen Hoffnung und wirkt in einem Bereich, der mangels umfassender Theorien zur Hochtemperatur-Supraleitung auf viel Ausprobieren angewiesen ist, sogar beflügelt. Die gute Nachricht ist fürs Erste: Die wissenschaftliche Methode, eine Hypothese eingehend auf Schwächen abzuklopfen und an den Daten zu messen, funktioniert. Während die Suche nach dem Heiligen Gral weitergeht, ist zu hoffen, dass dieser Teil im Gedächtnis bleibt.
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