Die fabelhafte Welt der Mathematik: Eine mathematische Schöpfungsgeschichte der surrealen Zahlen
Anfang der 1970er Jahre verbrachte der Mathematiker Donald Knuth ein Sabbatical gemeinsam mit seiner Frau in Norwegen. Eigentlich war die Zeit zum Entspannen gedacht, doch eines nachts weckte er seine Partnerin aufgeregt auf: Er müsse dringend ein Buch schreiben – aber keine Angst, es würde ihm nur eine Woche Zeit abverlangen. Um konzentriert arbeiten zu können, buchte er ein Hotelzimmer für sich allein in Oslo. Dort begann er sein Werk zu den »surrealen Zahlen«. »Ich war eine Woche lang in dem Hotelzimmer. Am sechsten Tag hatte ich das Buch beendet. Am siebten Tag ruhte ich«, sagte Knuth in einem Youtube-Video von »Numberphile«. Er habe an diesem letzten Tag nicht einmal mehr einen Brief an seine Sekretärin fertigstellen können: »Ich konnte keinen Satz mehr beenden«, erinnert er sich.
Sechs Tage harte Arbeit, ein Tag zum Ruhen. Tatsächlich ist das nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte und den surrealen Zahlen, die Mathematiker gefunden haben. Das Konzept dieser Zahlen, die noch weit mehr als die reellen Zahlen umfassen, hat Knuth nicht erfunden. Jedoch war er der Erste, der eine ausführliche Arbeit (in Form eines Buchs) über sie veröffentlichte.
Noch heute gilt »Surreal Numbers: How Two Ex-Students Turned on to Pure Mathematics and Found Total Happiness« (deutscher Titel: »Insel der Zahlen«) als Standardwerk zu dem Thema. Und das, obwohl es alles andere als ein gewöhnliches Sachbuch ist. Es besteht aus Dialogen zwischen den beiden fiktiven Personen Alice und Bill. Im Buch taucht aber auch der wahre Erfinder der surrealen Zahlen auf: der 2020 verstorbene Mathematiker John Horton Conway. »Am Anfang war das Nichts und J. H. W. H. Conway begann, die Zahlen zu schaffen«, kann man in Knuths Buch lesen. Dass er den Namen Conways um zwei weitere Initialen (W. H.) erweitert habe, sei eine Anspielung auf das Tetragrammaton (den aus vier Buchstaben bestehenden hebräischen Namen Gottes JHWH (Jahwe)) gewesen, sagte Knuth zu »Numberphile«.
Surreale Zahlen werden erzeugt, indem man Werte zwischen zwei vorgegebenen (bereits existierenden) Zahlen hinzufügt: Betrachtet man 0 und 1, befindet sich in der Mitte ½, zwischen 0 und ½ liegt ¼ und so weiter. So gelingt es, den Zahlenstrahl immer genauer aufzulösen. Das klingt zunächst wenig spektakulär, doch anstatt einfach nur Bruchzahlen mit immer größerem Nenner zu liefern, gibt es einen Punkt, an dem alles explodiert: Plötzlich entstehen Werte, die nicht einmal in den reellen Zahlen enthalten sind.
Aus zwei Axiomen ergibt sich ein unglaubliches Zahlenuniversum
Tatsächlich stellte Conway nur zwei Grundregeln auf, aus denen das unermessliche Zahlenreich erwächst. Jede Zahl x wird durch zwei Mengen ML und MR definiert, die zuvor erschaffene Zahlen enthalten: x = {ML; MR}. Es gibt eine linke (ML) und eine rechte Menge (MR), wobei die Elemente der linken stets kleiner sind als die der rechten Menge. Die zweite Regel besagt, dass 0 die Zahl ist, die durch zwei leere Mengen eingegrenzt wird. Das allein genügt schon, um einen unglaublich vielfältigen Zweig der Mathematik aufzubauen!
Fachleute sprechen von der Erschaffung der surrealen Zahlen, die an mehreren Tagen stattfindet: Am nullten Tag wird die Null aus dem Nichts erschaffen 0 = { ; }. Am ersten Tag entstehen zwei weitere Zahlen: 1 = {0; } und -1 = { ;0}. Denn eins ist die nächstgrößere Zahl nach null und minus eins die nächstkleinere. Der zweite Tage der surrealen Schöpfung wird schon interessanter, denn nun kann man erstmals verschiedene Zahlen für die beiden Mengen einsetzen: {0;1} bezeichnet zum Beispiel die Zahl, die zwischen 0 und 1 liegt, also ½. Darüber hinaus gibt es aber auch noch {1; } = 2, {-1;0} = -½ und { ;-1} = -2. So verfährt man am dritten Tag weiter und erhält die Zahlen ein Viertel, drei Viertel, drei und so weiter.
Wenn man das immer weiter fortsetzt, entstehen am n-ten Tag alle ganzen Zahlen von -n bis n sowie alle Bruchzahlen mit Nenner 2, 22, 24, 28, … bis 2n. Solche Bruchzahlen, deren Nenner Vielfache von 2 sind, heißen dyadische Zahlen. Somit scheinen die surrealen Zahlen ziemlich langweilig. Sie bestehen bloß aus ganzen und dyadischen Zahlen. Von Werten wie Pi oder die Wurzel aus zwei fehlt jede Spur – nicht einmal eine so banale Zahl wie ⅓ ist nach einer endlichen Anzahl von Tagen nach der Schöpfung entstanden.
Der Geburtstag aller reellen Zahlen
Die wirklich spannenden Eigenschaften der surrealen Zahlen entfalten sich, sobald man den Tag ω erreicht: ω entspricht der Anzahl der natürlichen Zahlen – also einer abzählbaren Unendlichkeit. An diesem Tag entstehen mit einem Schlag alle reellen Zahlen, die bisher noch nicht da waren: also alle irrationalen Werte und alle nicht dyadischen Brüche. √2 ergibt sich beispielsweise durch folgende Darstellung: √2 = {1 5⁄411⁄8 …; … 23⁄163⁄2}. Auf diese Weise ergeben sich auch andere irrationale Werte wie Pi; man kesselt die Zahl durch zwei dyadische Zahlenfolgen ein.
Was hat man durch die seltsame Konstruktion von Conway gewonnen? Tatsächlich tauchen an Tag ω nicht nur alle reellen Zahlen auf. Plötzlich entstehen auch unendliche Werte, nämlich die Zahl ω. Dafür muss man für die linke Menge alle natürlichen Zahlen einsetzen und die rechte Menge leer lassen: ω = {1 2 3 …; }. Damit entspricht sie der Zahl, die größer ist als alle natürlichen Zahlen.
Und es gibt noch mehr Ungewöhnliches. Setzt man für die linke Menge 0 ein und für die rechte alle dyadischen Brüche, erhält man eine infinitesimale Zahl ε = {0;...1⁄81⁄41⁄2 1}. Diese ist das Umgekehrte einer Unendlichkeit: ε ist so klein, dass es keine reelle Zahl gibt, die sie abbilden kann. Und tatsächlich entspricht ε dem Kehrwert von ω: ε = 1⁄ω. Die infinitesimale Zahl ε taucht am Tag ω nicht nur allein auf, sondern auch in Kombination mit allen ganzen und dyadischen Zahlen: ½ + ε = {½; ...1⁄81⁄41⁄2 1}.
An Tag ω + 1 entstehen weitere surreale Zahlen: zum Beispiel die Zahl ω + 1, ebenso wie ω – 1, also zwei neue Unendlichkeiten. Zudem kann nun jede reelle Zahl mit ε kombiniert werden, etwa: π + ε = {π; ...1⁄81⁄41⁄2 1}. Es entsteht aber auch die Zahl ε⁄2 – also ein Wert, der halb so klein ist wie die infinitesimale Zahl.
Der Mengenbegriff bricht zusammen
So lässt sich nun fortfahren: An jedem weiteren Tag entstehen neue surreale Zahlen; neue Unendlichkeiten und Infinitesimale sowie neue Werte, die zwischen allen zuvor erzeugten Zahlen auftauchen. Nach und nach wächst die Zahlenvielfalt immer weiter an. Und tatsächlich entstehen dabei so viele Objekte, dass sich die surrealen Zahlen nicht mehr als Menge definieren lassen. Sie bilden stattdessen eine »Klasse«. Damit übersteigen sie bei Weitem alle anderen Arten von Zahlen: die natürlichen, die rationalen und auch die reellen Zahlen.
Grund dafür ist die Definition der surrealen Zahlen durch je zwei Mengen ML und MR. Angenommen, die Gesamtheit aller surrealen Zahlen sei eine Menge S. Dann könnte man eine neue Zahl x definieren als: x = {S; }. Damit wäre x eine Zahl, die alle Werte von S übersteigt – man hätte also eine surreale Zahl definiert, die nicht in S enthalten ist. Das ist ein Widerspruch, da S per Definition alle surrealen Zahlen enthält. Um solche Paradoxa zu umgehen (die sich auch ergeben, wenn man die Anzahl aller Unendlichkeiten bestimmen möchte), haben Mathematikerinnen und Mathematiker den Begriff der Klasse eingeführt. Da S eine Klasse ist, darf man sie nicht verwenden, um daraus surreale Zahlen zu konstruieren.
Die surrealen Zahlen bergen aber noch weitere Überraschungen. Obwohl es deutlich mehr surreale als reelle Zahlen gibt, bilden sie kein Kontinuum. Ein Zahlenstrahl aus surrealen Zahlen ist löchrig – ganz im Gegensatz zur reellen Zahlengerade, die keine Lücken aufweist. Grund dafür ist, dass es immer kleinere infinitesimale Zahlenwerte gibt, die sich zwischen die zuvor erzeugten surrealen Zahlen quetschen. Das lässt sich an der offenen Menge [0,1) erkennen. Im Bild der reellen Zahlen schließt sie alle Werte mit ein, die kleiner sind als eins. Die Zahl Eins ist also eine »obere Schranke«. Ein solches Konzept fehlt bei den surrealen Zahlen aber, da man selbst zwischen der Menge [0,1) und 1 eine surreale Zahl finden kann, wie 1−ε. Diese gehört weder zu [0,1) noch zu 1.
Das hat weit reichende Konsequenzen: Eine Zahlenfolge wie 1⁄n hat demnach auch nicht einen Grenzwert von 0, wenn n gegen unendlich geht. Stattdessen konvergiert die Folge nicht. Sie läuft bis in alle Ewigkeit weiter, während sie die Werte ε, ε⁄2, …, ε⁄100 und so weiter annimmt und stets kleiner wird. Im Universum der surrealen Zahlen ist demnach 0,9999… ungleich 1 – anders als bei den reellen Zahlen.
»Es gibt keinen Grund zu glauben, dass unser Universum den Gesetzmäßigkeiten der reellen Zahlen folgt«Donald Knuth, Mathematiker
Mit solchen fehlenden Grenzwerten bricht auch die übliche Form der Analysis, die wir in der Schule in Form von Ableitungen und Integralen kennen lernen, in sich zusammen. Denn dort fußen alle grundlegenden Konzepte auf Grenzwertbildung und einem kontinuierlichen Zahlenraum. Dennoch ist es Fachleuten gelungen, die so genannte Nichtstandardanalysis zu entwickeln, die mit surrealen Zahlen funktioniert.
Auch wenn das alles sehr abstrakt und seltsam wirkt, ist Donald Knuth überzeugt, dass sich die surrealen Zahlen genauso zur Beschreibung unserer Welt eignen wie alle anderen. »Wenn wir surreale Zahlen in der Schule kennen gelernt hätten, würden wir davon ausgehen, dass das die Art ist, wie Zahlen sein müssen«, sagt er. »Es gibt keinen Grund zu glauben, dass unser Universum den Gesetzmäßigkeiten der reellen Zahlen folgt.« Tatsächlich haben Physiker schon versucht, surreale Zahlen in ihre Theorien einfließen zu lassen. Doch der Aufwand ist in der Regel sehr groß und die Vorteile bisher überschaubar.
In der Mathematik bilden die surrealen Zahlen hingegen ein interessantes Gebilde: ein enormes Zahlensystem, mit dem sich sowohl Unendlichkeiten als auch Infinitesimale beschreiben lassen. Tatsächlich war Conway auf die erstaunliche Konstruktion gekommen, als er Strategien von Go-Spielen untersuchte. In der Spieltheorie haben sich surreale Zahlen bewährt: allerdings nur in ihrer endlichen Variante, also als Zusammenschluss von ganzen und dyadischen Zahlen. Dass er auf diese Weise die unendlichen Weiten eines bisher unbekannten Universums der surrealen Zahlen offenbarte, sei die größte Überraschung seines mathematischen Lebens gewesen, erzählte er in einem Vortrag im Jahr 2016.
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