Freistetters Formelwelt: Symbole in Zeiten der Pandemie
Ich habe kürzlich eine Pressekonferenz der österreichischen Bundesregierung gesehen. Kanzler, Vizekanzler, Innen- und Gesundheitsminister haben die Bevölkerung ein weiteres Mal über Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie informiert. Dabei wurde immer wieder von »R0« gesprochen. Was mich ein klein wenig überrascht hat, denn auch wenn die Mathematik derzeit sehr viel präsenter ist als sonst, ist doch der mathematische Symbolismus weiterhin fast ausschließlich in den Fachartikeln der Wissenschaft zu finden.
Statt von »R null« zu reden, hätten die Politiker in diesem Fall aber auch einfach Basisreproduktionszahl sagen und sich den Umweg über die mathematische Variable sparen können. Warum sie es in diesem Fall dennoch für nötig empfunden haben, diese grundlegende Zahl zur Beschreibung der Ausbreitung von Krankheiten bei ihrem mathematisch-abstrakten Namen zu nennen, kann ich nicht beurteilen. Der prinzipielle Wert des Symbolismus ist aber unbestritten:
Diese fünf Formeln veröffentlichte der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead 1911 in seinem Buch »An Introduction to Mathematics«, das sich auch an die breite Öffentlichkeit wandte. Dazu schrieb er: »Wer die Nützlichkeit von Symbolen bezweifelt, sei aufgefordert, die vollständige Bedeutung dieser Gleichungen, die einige der grundlegenden Regeln der Algebra darstellen, aufzuschreiben – komplett und ohne die Verwendung irgendwelcher Symbole.«
Für die erste Formel gibt er im Anschluss gleich selbst ein Beispiel: »Wenn eine zweite Zahl zu einer beliebigen gegebenen Zahl addiert wird, ist das Ergebnis das gleiche, wie wenn man die erste gegebene Zahl zu der zweiten Zahl addiert hätte.« So einen Satz muss man vielleicht mehrfach lesen, um zu verstehen, worum es geht. Den einfachen Symbolismus x + y = y + x versteht man dagegen deutlich schneller. Whiteheads fünf Formeln sind die bekannten Kommutativ- und Assoziativgesetze für Addition und Multiplikation; dazu kommt noch das Distributionsgesetz, das Addition und Multiplikation verknüpft.
Eine einfachere Sprache
Die entsprechenden Regeln lernen alle in der Schule, und die Symbole sind auch ohne Mathematikstudium verständlich. Würde man die fünf Gleichungen aber tatsächlich in reinen Worten formulieren, wäre die Angelegenheit deutlich verwirrender. Genau das, so Whitehead, ist der große Wert der Symbole: Hat man sie einmal verstanden, dann muss man nicht mehr groß darüber nachdenken. Man kann sie fast automatisch, fast schon mechanisch wahrnehmen und manipulieren – und hat den Kopf frei, um über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken.
Die mathematische Symbolsprache kann erschreckend und vor allem abschreckend wirken. Für Außenstehende klingt sie vielleicht sogar unnötig kompliziert; so als wolle man sich mit unbekannten Symbolen wichtig machen oder Komplexität in Aussagen vortäuschen, die man in »normalen Worten« viel einfacher darstellen könnte. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Die Sprache der Mathematik mag verwirrend aussehen, wenn man sie nicht beherrscht. Aber sobald man sie erlernt hat, wird man feststellen, dass sie die Dinge klarer und eindeutiger macht.
Bei mathematischen Symbolen muss man nicht darüber diskutieren, wie sie gemeint sind; der Interpretationsspielraum ist im Vergleich zur normalen Sprache minimal. Und damit ist sie eigentlich das genaue Gegenteil der Sprache, die in der Politik üblicherweise verwendet wird. Die ist eher vage und man vermeidet es, sich eindeutig festzulegen. Und vielleicht ist das auch der Grund warum gerade jetzt doch ab und zu ein paar der mathematischen Symbole in die Pressekonferenzen Einzug halten: Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, braucht es ausnahmsweise einmal wirklich klare Maßnahmen, die auch entsprechend unzweideutig kommuniziert werden müssen.
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