Freistetters Formelwelt: Wenn doch nur alles so einfach wäre wie in der Theorie
Vor einiger Zeit war ich zu Gast in einer Radiosendung. Ich sollte live Fragen der Hörerschaft zum Thema Klimawandel beantworten. Ein Anrufer wollte wissen, ob es denn nicht möglich sei, die überall vorhandene Wärme als Energiequelle zu nutzen. Die Wände so vieler Gebäude werden ja, so seine Idee, ständig von der Sonne erwärmt – lässt sich das nicht irgendwie ausnutzen?
Ich konnte die Frage damals nicht exakt beantworten; habe aber angemerkt, dass wir diese scheinbar simple Form der Energiegewinnung vermutlich schon längst großflächig eingesetzt hätten, wenn es so einfach wäre. Eine kurze Recherche hat dann später eine sehr simple Formel geliefert, die genau dieser Idee zu Grunde liegt:
Sie beschreibt den »Seebeck-Effekt«, benannt nach dem deutschen Physiker Thomas Johann Seebeck. Er entdeckte 1821 ein faszinierendes Phänomen: Verbindet man zwei elektrische Leiter, die aus unterschiedlichen Materialien bestehen, zu einem Stromkreis mit verschiedenen Temperaturen an den beiden Kontaktstellen zwischen den Materialien, bildet sich eine elektrische Spannung. Ihre Größe berechnet sich nach der obigen Formel. Die Stärke der Spannung hängt einerseits von der Temperaturdifferenz ab, andererseits von den Materialkonstanten SB und SA, die auch Seebeck-Koeffizienten genannt werden.
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Das ist der Punkt, an dem die simple Mathematik in sehr komplexe Physik und Technik übergeht. Das physikalische Prinzip hinter dem Effekt lässt sich leicht verstehen: Die Elektronen in den Leitern haben – je nach Temperatur und in diesem Fall damit auch je nach Ort – unterschiedliche Geschwindigkeiten beziehungsweise Energien. Die hochenergetischen Elektronen bewegen sich zum kalten Ende und umgekehrt. Durch diesen thermischen Diffusionsstrom entsteht eine Spannung.
Wie das aber im Detail passiert und wie stark die Spannung ist, hängt deutlich von den verwendeten Materialien ab. Die Wissenschaft sucht schon lange nach einem Weg, den Seebeck-Effekt auch in großem Maßstab nutzbar zu machen. Bis jetzt kommt er hauptsächlich bei der Temperaturmessung zum Einsatz oder in Sonderfällen, bei denen man nicht anders an elektrischen Strom kommen kann (zum Beispiel an sehr abgelegenen Orten, wo Sonnenenergie schwer nutzbar ist). Das Problem ist nämlich die Effizienz: Will man eine sinnvoll verwendbare Spannung, dann braucht man Materialien mit den passenden Seebeck-Koeffizienten (die übrigens selbst von der Temperatur abhängen, weswegen man auch nicht einfach beliebig hohe oder niedrige Temperaturdifferenzen nutzen kann). In der Vergangenheit haben sich Verbindungen mit dem chemischen Element Tellur als gut erwiesen. Dieses ist aber extrem selten und noch dazu giftig.
Abwärme, die einfach verpufft
Das Problem bei der Ausnutzung dieser Thermoelektrizität ist die ineffiziente Umwandlung der Wärmeenergie. Dabei hätten wir jede Menge Wärme zur Verfügung! Viele industrielle Prozesse erzeugen Abwärme, die sich nicht anderweitig verwenden lässt und deswegen einfach verpufft – sogar wortwörtlich, wenn es etwa um die Wärme geht, die aus dem Auspuff von Autos kommt. Angesichts all der Probleme, die die Klimakrise mit sich bringt, wäre es mehr als nur wünschenswert, diese Wärme sinnvoll nutzen zu können.
Deswegen gibt die Forschung trotz aller Rückschläge nicht auf. An der Technischen Universität Wien wurde 2019 ein neues Material entwickelt, das viel effizienter ist als bisherige und ohne Tellur auskommt. Auf den Kanarischen Inseln testet man die Kombination von Seebeck-Effekt und Geothermie, um die Erdwärme direkt in Strom umzuwandeln. Aber so viel versprechend die Ansätze auch klingen, sie funktionieren noch nicht im großen Maßstab. Für die Bewältigung der Klimakrise werden wir vorerst auf andere Techniken setzen müssen.
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