Freistetters Formelwelt: Löcher zählen ist erstaunlich kompliziert
Ein topologischer Raum besteht, vereinfacht gesagt, aus einer Menge von Punkten – und ein paar Regeln, die angeben, welche Punkte auf welche Weise miteinander verbunden oder einander nahe sind. Anschauliche Beispiele dafür sind Objekte wie eine Kugel oder ein Torus (eine Donutoberfläche). Etwas weniger anschaulich ist diese Formel:
Sie definiert die Betti-Zahlen bi (benannt nach dem italienischen Mathematiker Enrico Betti), die man für einen topologischen Raum X bestimmen kann. Mit Hi(X, ℚ) wird die »i-te singuläre Homologiegruppe« bezeichnet. Das klingt zwar kompliziert, läuft aber im Wesentlichen darauf hinaus, die Löcher zu zählen, die ein bestimmtes topologisches Objekt besitzt.
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Man kann sich das Konzept am Beispiel des vorhin erwähnten Torus veranschaulichen. Mit b0 wird die Anzahl der »nulldimensionalen« Löcher gemessen – beziehungsweise die Anzahl zusammenhängender Stücke einer Figur. Beim Torus gibt es nur eine zusammenhängende Fläche, also ist b0 = 1.
Es liegt nahe, dass mit b1 die eindimensionalen Löcher gezählt werden, was im Rahmen dieser Definition auch stimmt, aber leider ein wenig verwirrend ist. Tatsächlich geht es um die Anzahl eindimensionaler Kurven (also Linien), die sich nicht zu einem Punkt zusammenziehen lassen, ohne die Oberfläche des Torus zu durchschneiden. Für unser Beispiel gibt es zwei solcher Kurven: Eine, die um den kleinen Durchmesser des Torus verläuft und eine um den großen Durchmesser des Torus herum. Die Betti-Zahl b1 ist also gleich 2.
Im gleichen Bild beschreibt b2 die Anzahl der dreidimensionalen Löcher, die von einer zweidimensionalen Fläche umschlossen werden. Davon hat der Torus eines, nämlich den Innenraum. Deswegen ist es eigentlich irreführend, im Kontext der Betti-Zahlen einen Donut als übliches Alltagsbeispiel für einen Torus zu verwenden, denn Donuts sind (hoffentlich!) innen nicht hohl!
Für i = 3, 4, … sind die zugehörigen Betti-Zahlen beim Torus alle gleich null – ebenso wie bei allen anderen zweidimensionalen Oberflächen. Hat man es aber mit höherdimensionalen Figuren zu tun, lassen sich die Betti-Zahlen natürlich bestimmen.
Topologie für die Ökologie
Dass sich die Topologie so ausführlich mit dem Zählen von Löchern beschäftigt, mag nicht überraschen. Tatsächlich haben die Betti-Zahlen auch abseits dieser Disziplin konkrete Anwendungen, zum Beispiel in der Analyse von Ökosystemen. Dort kann man etwa die Nahrungsketten zwischen unterschiedlichen Spezies als topologischen Raum modellieren. Mit b0 kann man dann messen, wie viele voneinander getrennte Nahrungsnetzwerke es gibt. Je höher b0, desto stärker ist das Ökosystem fragmentiert – was Schlüsse über seine Stabilität ermöglicht.
Ähnlich kann man die Habitate selbst analysieren: b0 gibt in diesem Fall die Anzahl der voneinander isolierten Lebensräumen an und b1 die Verbindungen zwischen ihnen. In der Praxis wurden Betti-Zahlen unter anderem bei der Untersuchung von Korallenriffen eingesetzt, wo sich aus Veränderungen dieser Zahlen Rückschlüsse über das Korallensterben ziehen ließen.
Man kann die Betti-Zahlen auch in der Kristallografie, DNA-Analyse oder Neurowissenschaft einsetzen ebenso in der Robotik, um kollisionsfreie Wege zu finden. Computeralgorithmen verwenden sie, um Formen zu untersuchen und wiederzuerkennen – und selbst in der allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantenfeldtheorie oder der Stringtheorie taucht dieses Konzept auf.
Wie man Dinge zählt, lernen wir schon als Kleinkinder. Und auch wenn das, was gezählt wird, immer abstrakter geworden ist, steht dieses Zählen immer noch im Herzen der Mathematik.
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