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Warkus' Welt: Triage soll Menschen retten, nicht töten

Die Diskussion um die Triage bei Covid-19 wird derzeit emotional geführt. Manche vergleichen sie gar mit Selektionen während der NS-Zeit. Doch wer das tut, verkennt ihren Zweck, sagt unser Kolumnist Matthias Warkus.
Beatmung im Krankenhaus

Über einen Aspekt der Coronavirus-Pandemie, der sich aufdrängt, wenn man überlegt, was an ihr philosophisch diskussionswürdig sein könnte, wollte ich eigentlich nichts schreiben: über die Entscheidungen, die das medizinische Personal derzeit bereits in einigen Ländern unter Überlastung und Zeitdruck treffen muss und die unter dem Schlagwort der »Triage« diskutiert werden. (Triage ist übrigens jede Fallklassifizierung, die Ärzte vornehmen, wenn viele neue Patienten auf einmal behandelt werden müssen. Dabei muss es längst nicht immer um Leben und Tod gehen wie im Fall von Covid-19, wo unter Umständen abgewogen werden muss, wer noch einen Platz auf der Intensivstation oder ein Beatmungsgerät bekommt: Ein Massenunfall auf der Autobahn, eine Lebensmittelvergiftung in einem Altersheim oder auch nur eine volle Notaufnahme am Freitagabend sind bereits Situationen, die Triage erfordern.)

Die Fragen, die sich zum Thema Triage bei Covid-19-Fällen stellen, sind so ernst, nah und angesichts der Situation in unseren Nachbarländern so konkret, dass es mir anmaßend vorkam, darüber zu schreiben. Und auch heute will ich den Medizinethikern nicht in ihr Handwerk pfuschen, indem ich Urteile darüber abgebe, wie Triage stattfinden sollte. Denn davon haben diese deutlich mehr Ahnung als ich. Ich würde aber gerne das Phänomen als Ganzes einordnen.

Der Anlass dafür ist eine Äußerung der Schriftstellerin und »Spiegel«-Kolumnistin Sibylle Berg, die am 27. März twitterte:

In dem mehr als 500-mal geteilten und rund 5000-mal mit »Gefällt mir« markierten Tweet stecken zwei Aussagen. Erstens: »Es gibt (in der aktuellen Pandemie) Überlegungen, dass über 80-Jährige sterben sollen, damit jüngere Menschen überleben.« Und zweitens: »Dies ist vergleichbar mit den Selektionen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.«

Gebrechlichkeit ist nur ein Kriterium

Geht man davon aus, dass Berg hiermit die (im Fall eines weiteren starken Anstiegs der Covid-19-Patienten-Zahlen) notwendig werdende Triage von Intensivpatienten meint, ist die erste Aussage mindestens ungenau. Schaut man zum Beispiel in die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, ist dort nicht davon die Rede, dass Ältere sterben sollen, damit Jüngere überleben können. Das maßgebliche Kriterium für die Priorisierung von Intensivbetten ist die Erfolgsaussicht der Therapie. Gebrechlichkeit (nicht Alter) ist nur ein einer von einer ganzen Reihe an Indikatoren, die zur Prognose herangezogen werden sollen. Die Entscheidung soll dabei von einem (möglichst interdisziplinären) Team und nicht von einer Einzelperson getroffen werden. Das Ziel der Triage ist die Rettung einer größtmöglichen Anzahl von Leben mit den gegebenen Ressourcen.

Möglicherweise meint Sibylle Berg aber etwas anderes. Im Zusammenhang mit den aktuellen schweren Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens gibt es eine rege öffentliche Diskussion dazu, ob, wann und wie es gerechtfertigt sein könnte, diese Einschränkungen wieder aufzuheben. Selbst wenn dies bedeutet, dass die Anzahl der Erkrankten dadurch stärker steigt und damit auch mehr Todesopfer zu beklagen sind, unter anderem, weil die medizinischen Ressourcen überlastet werden und Triage nach den erwähnten Kriterien notwendig wird. Als ein Argument für die Lockerung der Maßnahmen wird oft angeführt, dass der dadurch entstehende wirtschaftliche Schaden letztlich auch wieder Menschen schädigt, zum Beispiel, weil Armut und Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft mit Krankheiten und einer niedrigeren Lebenserwartung zusammenhängen. Dies hat dazu geführt, dass etwa in den sozialen Medien die Behauptung kursierte, Triage bedeute, dass Menschen »für die Wirtschaft sterben« müssten. Am Ende kam sogar die Vorstellung auf, die Triage in der Intensivmedizin habe die Arbeitsfähigkeit der Patienten als Kriterium.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unseren FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Über das Triage-System sprach »Spektrum.de« außerdem mit dem Notarzt Leo Latasch.

Wir haben die Neigung, alle ethischen Fragen auf einfache Abwägungen von Leben und Tod herunterzubrechen. Dies hat sicher dazu beigetragen, dass hier zwei ganz unterschiedliche Themen leichtsinnig miteinander vermischt werden – als säßen die Intensivmedizinerin, die entscheiden muss, wer beatmet wird, und die Ministerin, die entscheiden muss, wann bestimmte Verordnungen aufgehoben werden, beide jeweils an einem Hebel, der auf beiden Seiten klar mit Anzahl und Art der zu erwartenden Todesopfer beschriftet ist. Es ist kein Zufall, dass hier und da auch die in den letzten Jahren so beliebt gewordene Vorstellung vom selbstfahrenden Auto, das autonom Entscheidungen über Leben und Tod treffen muss, mit den Überlegungen zur Triage von Covid-Patienten zusammengebracht wurden. Diese Art von ethischen Entscheidungen ist jedoch nicht der Normalfall – im Gegenteil: Sie kommt außerhalb von Gedankenexperimenten kaum vor.

Bergs erste Aussage kann man noch als radikale Verkürzung gelten lassen. Ihre zweite Aussage ist allerdings mindestens fahrlässig, schlimmstenfalls niederträchtig. Bei den Selektionen der SS wurden keine knappen Überlebensressourcen verteilt, sondern Mörder entschieden, welche ihrer Opfer gleich und welche später sterben sollten. Die Ressourcenknappheit in Auschwitz war in keiner Weise »gegeben«, sondern in jeder Hinsicht gewollt. Wenn Sibylle Berg hier eine Analogie zu jedweder Art von Ressourcenabwägung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zieht, behauptet sie letztlich, Deutschland sei zur Gänze ein Konzentrationslager und alle hier Lebenden so etwas Ähnliches wie Lagerinsassen. Das ist eine Verunglimpfung der tatsächlichen Opfer und eine Beleidigung der Vernunft. Die Analogie macht auch, ernst genommen, jede Diskussion darüber, was ethisch aktuell tatsächlich geboten ist, unmöglich. Denn wenn die Hölle der industriellen Massenvernichtung und das, was heute ist, dasselbe sind, dann haben Abwägungen und Maßstäbe keine Bedeutung mehr.

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