Warkus’ Welt: Über Einhörner lässt sich (nicht) streiten
Reden Sie häufiger über Einhörner? Die große popkulturelle Einhornwelle scheint zwar abgeklungen zu sein, dennoch sind die niedlichen Regenbogentierchen immer noch allgegenwärtig. Und das, obwohl es bekanntlich gar keine Einhörner gibt. Oder etwa doch?
Rein sprachlich können wir über Einhörner genauso reden wie über echte Tiere. Wir können wahre Sätze über sie ebenso bilden wie falsche. Der Satz: »Einhörner haben ein Horn« ist trivialerweise wahr, »Einhörner haben zwei Hörner« entsprechend falsch. Die Aussage »Einhörner haben vier Beine« werden fast alle akzeptieren, »Einhörner sind Paarhufer« hingegen vermutlich eher weniger, da die Tiere heute normalerweise pferdeähnlich gezeichnet werden, obwohl man sie historisch mit Kuh- oder Hirschfüßen darzustellen pflegte.
Wir können Einhörner sogar zum Lösen von Alltagsproblemen verwenden, indem wir sie oder ihre Eigenschaften in unserer Vorstellung oder in einer bildlichen Darstellung benutzen. So könnte man etwa eine Strichliste führen, indem man für jedes »Fünferpäckchen« ein Einhorn mit vier Beinen und Horn zeichnet statt den üblichen senkrechten und schrägen Strichen. Das wäre zwar etwas unpraktisch, aber es würde funktionieren. Man könnte auch die Körperteile eines Einhorns als Eselsbrücke zum Merken von Prüfungswissen verwenden und dergleichen mehr.
Dass wir sinnvoll über etwas reden oder es praktisch als Zeichen verwenden können, ist noch kein Garant dafür, dass es wirklich existiert, das ist klar. (Sonst gäbe es auch keine Literatur, keine Gedankenexperimente, überhaupt kein Reden über Ereignisse, die sich möglicherweise in der Zukunft ereignen könnten.) Was heißt es aber denn dann, dass es etwas gibt?
Man könnte vermuten, dass es nur das gibt, was wir wahrnehmen und anfassen können. Im Alltag ist dies eine gut funktionierende Näherung, weil fast alle Gegenstände, mit denen wir zu tun haben, gut sichtbar sind und sich berühren lassen. Schon bei so etwas wie den Elektronen im Atom oder Dateien in Computern kommen wir aber ins Schwimmen. Ein Elektron kann man nicht berühren, und eine Datei kann man nicht in die Hand nehmen – trotzdem gibt es beides.
Das Blut von James Bond
Eine andere beliebte Überlegung zielt darauf ab, dass es für alles, was existiert, möglich sein müsse, anzugeben, woraus es zusammengesetzt ist, beziehungsweise in welche Teile es sich zerlegen lässt. Man könnte dann natürlich argumentieren, dass auch Einhörner oder Romanfiguren genauso zusammengesetzt sind wie reale Tiere oder Menschen. Stellen wir uns etwa vor, dass jemand James Bond in einem Roman oder einem Film Blut abnimmt. Betrachtet die betreffende Person die Probe unter dem Mikroskop, wird sie natürlich Blutzellen sehen. Umgekehrt gibt es zahlreiche real existierende Gegenstände wie etwa Löcher (die ja gerade aus nichts bestehen), Vereine, Firmen, Stiftungen, bei denen es schwierig wird, anzugeben, wie sie zusammengesetzt sein sollen. Und woher wissen wir überhaupt, dass die Einzelteile wirklich existieren?
Auch die Vorstellung, dass es lediglich so etwas wie den Konsens einer hinreichend großen Gruppe braucht, um über echt und unecht zu entscheiden, scheidet aus. Über Jahrzehnte hinweg gingen zahlreiche deutsche Fernsehzuschauer davon aus, dass Seifenopernfiguren wie etwa Helga Beimer aus der Lindenstraße »echt« seien. Und auch die Existenz von Ufos, Hexen und Erdstrahlen war von Zeit zu Zeit durchaus stark konsensfähig, so abstrus das auch anmutet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass unter hinreichend ungünstigen Bedingungen eine überwältigende Mehrheit auf die Idee kommt, ein völlig irrealer Gegenstand sei wirklich da.
Es gibt genau das wirklich, womit wir erfolgreich, kontrollierbar und wiederholbar interagieren können
Anders als bei vielen anderen philosophischen Problemen habe ich persönlich auf die Frage, wie sich feststellen lässt, was wirklich existiert, eine klare Antwort: Es gibt genau das wirklich, womit wir erfolgreich, kontrollierbar und wiederholbar interagieren können. So gut wir uns ein Einhorn auch vorstellen oder über seine Zusammensetzung nachdenken können, so sehr wir davon überzeugt sind, dass es Einhörner gibt: Kein Handbuch der Welt liefert uns eine zuverlässige Anleitung dafür, wie man eines fängt. Niemand kann uns eines verkaufen, und in keinem Zoo können wir eines streicheln. Umgekehrt können wir mit Löchern, Firmen und Elektronen tagein, tagaus problemlos und nachvollziehbar interagieren, ohne dass wir für uns geklärt haben müssen, woraus und warum sie bestehen.
Es gibt natürlich Philosophinnen und Philosophen, die das alles ganz anders sehen und zum Beispiel der Ansicht sind, dass alles, was es wirklich gibt, aus Teilchen und Kraftfeldern bestehen muss. Wenn wir uns in der Philosophie darum streiten, ob es etwas wirklich gibt, dann heißt das aber in keinem Fall, dass wir uns tatsächlich darüber uneins sind, ob man es im Alltag antrifft. Die Diskussion über die Existenz von Einhörnern in der Philosophie ist eine andere als die über die Existenz des Yetis unter Bergsteigern.
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