Kolumnen: Über Nasen
Oder: Die Gemeinheit der Natur
Warum der Mensch eine Nase hat? Nun – um der Liebenswürdigkeit seines Profils willen. Der Schimpanse hat zwar auch einen Charakterkopf, aber die Pallas wirkt doch charmanter, reizvoller. Auf mich zumindest.
Natürlich – was so ein rechter Evolutionsbiologe ist, dem ist die obige sprachkritische und ästhetische Rechtfertigung der Nase des Menschen nicht genug. Da müssen jetzt funktionale, biomechanische, evolutionäre Erklärungen her. Also: Warum hat der Schimpanse – obwohl auch er ein Schmalnasenaffe ist – keine so schlanke, schön gespitzte, das Gesicht überragende Nase wie die Pallas (Fußnote 3)?
Mit den Kiefern hat's zu tun, sagen die evolutionären Anthropologen. Die wurden beim Menschen relativ kleiner, wichen zurück. Und bei der Gelegenheit schwanden auch die Oberaugenwülste, die der Aufnahme der enormen Kaudrücke zwischen den Backenzähnen dienen (die bei uns eben auch weiter hinten liegen, weswegen wir diese Drücke übers Schädeldach weiterleiten können). Die Nasenspitze blieb einfach, wo sie war, und als die Oberlippe zurückrutschte, öffnete sich die Nase nun halt nach unten statt nach vorne.
Um ehrlich zu sein: Ich hab' diese Erklärung zwar stets für halbwegs plausibel, aber zugleich auch für ein wenig unbefriedigend gehalten. Warum sollte die Nasenspitze nicht auch im Gesicht "rückwärts" marschieren, so wie es in Jahrhunderttausenden die Kiefer und die Kraftlinien der Kaudrücke taten? Wer nagelt die Nasenspitze in Zeit und Raum so fest?
Einen plakativeren Grund der spezifischen Benastheit des Menschen wünschte ich mir, eine schlagendere, elegantere Hypothese – und fand sie in der Behauptung, dass die Nasenlöcher des Menschen nach unten weisen, damit es ihm nicht in die Nase hineinregne. Weswegen er sich überhaupt erst aufmachen konnte, die trockenen Savannen Ostafrikas zu verlassen und die mitunter verregneten, trüben Gefilde Europas und Asiens zu besiedeln.
Als "Experimentum crucis" schlug ich vor, man möge einen Kopfstand unter der Dusche machen, um sich von der Richtigkeit meiner Überlegungen zu überzeugen. Ich fand aber bei den strengen Wissenschaftstheoretikern kein Gehör – das sei ein sehr künstlicher, noch dazu glitschiger und deshalb gefährlicher experimenteller Ansatz, der zudem nicht geeignet sei, die Hypothese zu falsifizieren, sondern bestenfalls dazu, sie zu bestätigen, was nun gar nichts über den Wert der Hypothese besage. Und außerdem sei die Vorstellung eines frühsteinzeitlichen Homo habilis oder erectus im Kopfstand unter der Dusche aus aktueller evolutionsbiologischer Sicht geradezu lächerlich.
Ich schwieg fürderhin.
Bis mir diese Publikation (Fußnote 4) in die Finger kam, die eine neu entdeckte Affenart beschreibt. Und darin jenes Bild eines Affen:
Doch die Natur ist noch gemeiner zu diesen Affen. Die leben nämlich im tropischen Regenwald. Und da regnet es öfter. Und wenn die Einheimischen sich auf die Jagd nach den Affen begeben (das machen sie der Felle wegen), dann tun sie das bevorzugt, wenn es regnet. Dann sitzen diese Affen nämlich im Baum und verraten sich durch lautes Niesen. Weil's ihnen in die Nasen regnet, obwohl sie versuchen, den Kopf in den Armen und zwischen den Knien zu bergen. Die armen Affen!
Auf den ersten Blick war ich begeistert über diese feldbiologische, triumphale Bestätigung meiner regnerischen Nasenhypothese. Auf den zweiten Blick, bei genauerem Nachdenken, kamen mir Zweifel. Wenn dieser Aff', trotz des Nasenmangels, trotz des Wassereinbruchs, trotz des Niesens, wenn er trotz alledem im Regen(wald) zu überleben vermochte – dann ist's ja mit meiner evolutionsbiologischen Erklärung des Nasenvorteils nicht weit her. Es regnet zwar rein, er niest, aber er überlebt.
Andererseits: Fragt sich, wie lange noch? Die neu entdeckte Art, heißt es in der Publikation, sei – gerade erst von der Wissenschaft entdeckt – schon wieder vom Aussterben bedroht. Wegen dieser Schmalnasenaffen mit nach unten offenen Nasenlöchern, die sie, wenn sie niesen, von den Bäumen schießen beziehungsweise gleich den ganzen Wald abholzen.
Dann wird dort, wo ein Regenwald war, eine Wüste sein, knochentrocken, kein Regen, nur sandstaubige Stürme.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Eine Gruppe von Lebewesen, die auf Grund bestimmter gemeinsamer Merkmale, die wiederum auf gemeinsamer Abstammung beruhen, zu einem "Taxon", also einer Kategorie der biologischen Systematik, zusammengefasst werden
(2) So wird "Katarhini" normalerweise übersetzt: "Schmalnasen". Eigentlich heißt's aber "Abwärtsnasen" (das griechische Präfix kata bedeutet "herab", "hernieder"), wobei man sich auf die Stellung der Nasenlöcher bezieht, von der im Text die Rede ist.
(3) Die Schimpansen sind natürlich nicht unsere Vorfahren. Aber was ihre Gesichtszüge, die Nase, die Kieferstellung und die Oberaugenwülste angeht, sind sie sicher näher an unseren tatsächlichen Vorfahren, den Australopithecinen, als wir selbst.
(4) Geissmann, T. et. al.:A new species of snub-nosed monkey, genus Rhinopithecus Milne-Edwards, 1872 (Primates, Colobinae), from northern Kachin state, northeastern Myanmar. In: American Journal of Primatology 73, S. 96-107, 2011
Erst der Mensch – oder eben die Götterbilder, die er für und von sich macht –, erst der Mensch macht dem griechischen Namen des Taxons (siehe Fußnote 1), dem er angehört, so recht Ehre. Der Mensch ist nämlich, taxonomisch gesprochen, ein Altweltaffe, einer jener Affen also, welche die Welt besiedeln, die schon die Alten kannten: Afrika, Asien, Europa. Und die Altweltaffen heißen "Katarhini", zu Deutsch: "Schmalnasenaffen" (Fußnote 2). Die "Platyrhini", die "Breitnasenaffen" der neuen Welt, haben weit auseinanderstehende, zur Seite weisende Nasenlöcher. Die Schmalnaser hingegen haben tendenziell schlankere Nasen, mit Öffnungen, die nach vorne gerichtet sind. Und wenn man's recht bedenkt und beschaut, dann ist der Mensch der einzige Aff' der alten Welt, dessen Nase so richtig schmal ist und dessen Nasenlöcher nicht nach vorne, sondern nach unten weisen.
Natürlich – was so ein rechter Evolutionsbiologe ist, dem ist die obige sprachkritische und ästhetische Rechtfertigung der Nase des Menschen nicht genug. Da müssen jetzt funktionale, biomechanische, evolutionäre Erklärungen her. Also: Warum hat der Schimpanse – obwohl auch er ein Schmalnasenaffe ist – keine so schlanke, schön gespitzte, das Gesicht überragende Nase wie die Pallas (Fußnote 3)?
Mit den Kiefern hat's zu tun, sagen die evolutionären Anthropologen. Die wurden beim Menschen relativ kleiner, wichen zurück. Und bei der Gelegenheit schwanden auch die Oberaugenwülste, die der Aufnahme der enormen Kaudrücke zwischen den Backenzähnen dienen (die bei uns eben auch weiter hinten liegen, weswegen wir diese Drücke übers Schädeldach weiterleiten können). Die Nasenspitze blieb einfach, wo sie war, und als die Oberlippe zurückrutschte, öffnete sich die Nase nun halt nach unten statt nach vorne.
Um ehrlich zu sein: Ich hab' diese Erklärung zwar stets für halbwegs plausibel, aber zugleich auch für ein wenig unbefriedigend gehalten. Warum sollte die Nasenspitze nicht auch im Gesicht "rückwärts" marschieren, so wie es in Jahrhunderttausenden die Kiefer und die Kraftlinien der Kaudrücke taten? Wer nagelt die Nasenspitze in Zeit und Raum so fest?
Einen plakativeren Grund der spezifischen Benastheit des Menschen wünschte ich mir, eine schlagendere, elegantere Hypothese – und fand sie in der Behauptung, dass die Nasenlöcher des Menschen nach unten weisen, damit es ihm nicht in die Nase hineinregne. Weswegen er sich überhaupt erst aufmachen konnte, die trockenen Savannen Ostafrikas zu verlassen und die mitunter verregneten, trüben Gefilde Europas und Asiens zu besiedeln.
Als "Experimentum crucis" schlug ich vor, man möge einen Kopfstand unter der Dusche machen, um sich von der Richtigkeit meiner Überlegungen zu überzeugen. Ich fand aber bei den strengen Wissenschaftstheoretikern kein Gehör – das sei ein sehr künstlicher, noch dazu glitschiger und deshalb gefährlicher experimenteller Ansatz, der zudem nicht geeignet sei, die Hypothese zu falsifizieren, sondern bestenfalls dazu, sie zu bestätigen, was nun gar nichts über den Wert der Hypothese besage. Und außerdem sei die Vorstellung eines frühsteinzeitlichen Homo habilis oder erectus im Kopfstand unter der Dusche aus aktueller evolutionsbiologischer Sicht geradezu lächerlich.
Ich schwieg fürderhin.
Bis mir diese Publikation (Fußnote 4) in die Finger kam, die eine neu entdeckte Affenart beschreibt. Und darin jenes Bild eines Affen:
Der arme Aff'! So was von gar keine Nase. Das ist zwar ein Schmalnasenaffe, aber einer, dem fast das ganze Vestibül der Nase, also der ganze knorplige Vorbau, der vor der eigentlichen Nasenhöhle sitzt, abhandengekommen ist. Sieht aus, als ob man einem Totenschädel in die knöcherne Nasenhöhle schaute. Man möcht' dem armen Tier eine Prothese spendieren, so schmerzhaft erinnert dies Gesicht an die grausame Sitte des Nasenabschneidens. Die Nase ist aber nicht abgeschnitten. Sie fehlt halt nur.
Doch die Natur ist noch gemeiner zu diesen Affen. Die leben nämlich im tropischen Regenwald. Und da regnet es öfter. Und wenn die Einheimischen sich auf die Jagd nach den Affen begeben (das machen sie der Felle wegen), dann tun sie das bevorzugt, wenn es regnet. Dann sitzen diese Affen nämlich im Baum und verraten sich durch lautes Niesen. Weil's ihnen in die Nasen regnet, obwohl sie versuchen, den Kopf in den Armen und zwischen den Knien zu bergen. Die armen Affen!
Auf den ersten Blick war ich begeistert über diese feldbiologische, triumphale Bestätigung meiner regnerischen Nasenhypothese. Auf den zweiten Blick, bei genauerem Nachdenken, kamen mir Zweifel. Wenn dieser Aff', trotz des Nasenmangels, trotz des Wassereinbruchs, trotz des Niesens, wenn er trotz alledem im Regen(wald) zu überleben vermochte – dann ist's ja mit meiner evolutionsbiologischen Erklärung des Nasenvorteils nicht weit her. Es regnet zwar rein, er niest, aber er überlebt.
Andererseits: Fragt sich, wie lange noch? Die neu entdeckte Art, heißt es in der Publikation, sei – gerade erst von der Wissenschaft entdeckt – schon wieder vom Aussterben bedroht. Wegen dieser Schmalnasenaffen mit nach unten offenen Nasenlöchern, die sie, wenn sie niesen, von den Bäumen schießen beziehungsweise gleich den ganzen Wald abholzen.
Dann wird dort, wo ein Regenwald war, eine Wüste sein, knochentrocken, kein Regen, nur sandstaubige Stürme.
Der nächste Schritt in der Evolution der Schmalnasenaffen wird dann die Staubfilternase sein. Ganz bestimmt. Obwohl ich schwerste ästhetische Bedenken habe.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Eine Gruppe von Lebewesen, die auf Grund bestimmter gemeinsamer Merkmale, die wiederum auf gemeinsamer Abstammung beruhen, zu einem "Taxon", also einer Kategorie der biologischen Systematik, zusammengefasst werden
(2) So wird "Katarhini" normalerweise übersetzt: "Schmalnasen". Eigentlich heißt's aber "Abwärtsnasen" (das griechische Präfix kata bedeutet "herab", "hernieder"), wobei man sich auf die Stellung der Nasenlöcher bezieht, von der im Text die Rede ist.
(3) Die Schimpansen sind natürlich nicht unsere Vorfahren. Aber was ihre Gesichtszüge, die Nase, die Kieferstellung und die Oberaugenwülste angeht, sind sie sicher näher an unseren tatsächlichen Vorfahren, den Australopithecinen, als wir selbst.
(4) Geissmann, T. et. al.:A new species of snub-nosed monkey, genus Rhinopithecus Milne-Edwards, 1872 (Primates, Colobinae), from northern Kachin state, northeastern Myanmar. In: American Journal of Primatology 73, S. 96-107, 2011
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