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Ranga Yogeshwar: Und was bringt's mir?

Ist sie schön, teuer und nutzlos? Ranga Yogeshwar streitet über den Nutz- und Mehrwert der Wissenschaft für die Gesellschaft.
Ranga Yogeshwar

Ich hatte ein Date und traf mich mit Linda, einer sehr attraktiven jungen Frau. Das war in Boston im Jahr 1988. Linda war gerade zum »vice-president« einer Bank avanciert, und bei unserem Abendessen kamen wir auch auf die Politik zu sprechen. Die Präsidentschaftswahlen standen an und Linda war aktive Unterstützerin des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Michael Dukakis, der gegen George Bush antrat. Dukakis, damals Gouverneur von Massachusetts, war ein Shootingstar und versprach einen Umschwung nach den zwei Amtsperioden von Ronald Reagan. »Wir haben einen wunderbaren Wahlslogan«, meinte sie: »What’s in for me? (Was springt für mich heraus?), damit werden wir die Menschen erreichen!« Sie war euphorisch.

Es entbrannte eine heftige Diskussion zwischen uns. Bestand der Klebstoff für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft lediglich im Nutzwert für den Einzelnen? War dieses »What’s in for me?« nicht Ausdruck einer Verkennung höherer Ziele? Hatte J. F. Kennedy nicht das genaue Gegenteil ausgesprochen mit seinem berühmten Satz: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst?« Wenn man flirtet, dann bejaht man gerne den anderen, doch für mich ging Lindas Slogan zu weit. Wie konnte ich eine Frau lieben, die diesen Satz mit derartiger Überzeugung vertrat. Womöglich war die Liebe an sich für sie womöglich auch nichts weiter als ein Geschäftsmodell. An diesem Abend stieg ich enttäuscht ins Taxi – allein. Mein Date war geplatzt, und »What’s in for me?« war der Abturner.

Warum ich Ihnen die Geschichte erzähle? Das Motto der Diskussionsveranstaltung »Schön, teuer und nutzlos? Wissenschaft und ihr (Mehr-)Wert für die Gesellschaft« hat mich an den Slogan von damals erinnert. Im Ankündigungstext hieß es: »Die Bürger also ›leisten sich‹ eine starke Wissenschaft. Doch bekommen sie auch das, was sie erwarten?« Gesprochen wurde vom Nutzen für die Gesellschaft, von Behandlungen gegen Krebs, von erneuerbarer Energie und natürlich vom Klimawandel. Naja, das passt immer, und zumindest hier zu Lande trifft man beim Kampf gegen Krebs und Klimawandel auf breite Zustimmung – noch. Der Text im Flyer war jedoch entlarvend, denn im Kern setzt er auf eine rein ökonomische Legitimation, operiert mit dem Nutzwert: Unsere medizinische Versorgung, unsere Mobilität, weltweite Kommunikation, eine florierende Wirtschaft – ohne wissenschaftliche Erkenntnis wäre all dies und vieles mehr nicht vorstellbar. Das ist »What’s in for me?«.

Wer jedoch wissenschaftliche Neugier und den tiefen Drang, diese Welt besser zu verstehen, auf ökonomische Kategorien reduziert, der begeht einen Fehler. Denn nicht alles, was erforscht wird, passt in diese Denkart. Was »bringt uns« zum Beispiel ein »Sonderforschungsbereich 933«, der neue interpretatorische Zugänge zu antiken und mittelalterlichen Texten entwickelt? Gefördert wird er mit 11,5 Millionen Euro. Gefördert wird von der DFG auch ein Projekt rund um das Geburtshaus des altägyptischen Tempels von Edfu, wo die Hieroglyphen des Sanktuars, des Opfersaals und großer Teile des Vestibüls mit unserem Steuergeld übersetzt werden. Was bitte ist der Nutzwert dieser Forschung?

Die Übersetzung altägyptischer Hieroglyphen wird wohl nicht das Bruttosozialprodukt steigern und für eine florierende Wirtschaft sorgen. Aber ist diese Wissenschaft nicht dennoch großartig? Sie versucht das Puzzle einer einstigen Hochkultur zu lösen und erweitert unser Verständnis der Vergangenheit. Auch bei der Erforschung der Eigenschaften des Higgs-Bosons oder dem Nachweis von Gravitationswellen gibt es kein ökonomisches »return on investment«, und selbst der wirtschaftliche Spin-off in diesen Disziplinen ist, wenn man genau hinschaut, kein gutes Argument. Seit Jahrzehnten beobachte ich eine Wissenschaftslandschaft, die ihre innere Triebfeder, nämlich Neugier und Erkenntnisgewinn, nach außen mit utilitaristischen Argumenten zu legitimieren sucht. Warum?

Unsere Gesellschaft hat mit der Zeit eine Krämerdenke übernommen, und egal wo man hinsieht, heißt es »What’s in for me?«. Medienlandschaften richten sich am Diktat der Zuschauerquoten aus, Medizin wird nach wirtschaftlichen Kriterien zerteilt, und selbst Opern müssen sich für das Stadtmarketing als Profitcenter darstellen: Mit einer »Traviata«-Aufführung steigt die Zahl der Übernachtungen, Restaurantbesuche und die Kaufquote in Schuhgeschäften – wenn das kein Grund ist!

Wenn wir unsere wissenschaftliche Welt einzig durch die marktwirtschaftliche Brille betrachten, so übersehen wir ihre Schönheit. Mehr noch, wir zerstören ihre Grundlagen: Offenheit und freier Austausch.

Als Wissenschaftler vor einigen Jahren das Immunsystem von Bakterien untersuchten, stießen sie auf sonderbare, sich wiederholende Gensequenzen. Mit der Zeit wurde bekannt, dass ähnliche Strukturen im Genom vieler verschiedener Prokaryoten existieren, und allmählich begann man genauer zu verstehen, wie sich zum Beispiel Bakterien gegen Vireninfektionen schützen. Doch dann erkannte man, dass dieses CRISPR-Prinzip auch eine revolutionär einfache Methode für Genveränderungen darstellt. Mit dieser Möglichkeit der konkreten Anwendung wurde der gesamte Forschungszweig über Nacht mit ökonomischer Gier vergiftet. Der anhaltende Patentstreit um CRISPR zwischen dem Broad Institute von MIT und Harvard, der UC Berkley und weiterer Player ist ein beschämendes Beispiel dafür, wie schnell die wissenschaftliche Freude an einer viel versprechenden Erkenntnis in einen erbitterten Kampf um ökonomische Verwertbarkeit münden kann. Nun toben sich Rechtsanwälte und Patentrichter und Venture-Kapitalisten aus und haben den Wissenschaftlern das Zepter entrissen.

Auch in anderen Disziplinen kann man Ähnliches beobachten: Kürzlich las ich in der New York Times einen erhellenden Artikel über die Gehälter von Forschern im Bereich der künstlichen Intelligenzforschung. Bei Google -DeepMind in London zum Beispiel belaufen sich die Personalkosten der insgesamt 400 Mitarbeiter im Jahr 2016 auf 138 Millionen US-Dollar. Macht im Schnitt pro Mitarbeiter 345 000 Dollar. Konsequenz: Herausragende Wissenschaftler verlassen öffentliche Forschungsinstitute und Universitäten, um sich in den Dienst großer und gut zahlender Privatunternehmen zu begeben. Das »What’s in for me?« trocknet so die Fachkompetenz unabhängiger, öffentlicher Institutionen aus, denn dort mangelt es zunehmend an guten Köpfen. Dieses Knowhow fehlt, wenn wir – wie es zum Beispiel dringend geboten wäre – über die Konsequenzen sozialer Netzwerke oder der künstlichen Intelligenz zu reden hätten. Während der Befragung von Marc Zuckerberg vor dem Kongress konnte man verfolgen, wie ignorant die Politik bei diesem Thema ist. Das Ergebnis: Die falschen Fragen wurden gestellt und ein Thema von dieser demokratischen Brisanz wird am Ende den Firmen überlassen, da es an unabhängiger Kompetenz fehlt. Man könnte fast zynisch sagen: Schön. Und teuer und nutzlos für uns Bürger.

Ist es nicht an der Zeit, dass die Wissenschaft mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft einen Kontrapunkt setzt zu der Eindimensionalität ökonomischer Perspektiven? Und ist es nicht ihre Pflicht, auch für jene Inhalte einzutreten, die sich womöglich nicht lohnen im rein monetären Sinn und trotzdem dem Gemeinwohl und unserer Zivilisation dienen? Dieser Weg setzt jedoch voraus, dass das Selbstverständnis der Wissenschaft hinterfragt und präzisiert wird. Was genau ist ihre fundamentale Aufgabe, nach welchen Zielen orientiert sie sich und welche Rolle weist sie sich dabei selbst zu?

Ist es nicht Zeit, dass die Wissenschaft einen Kontrapunkt setzt zur Eindimensionalität ökonomischer Perspektiven?

Wenn zum Beispiel mathematische Erkenntnisse in Algorithmen einfließen, die unsere Finanzwelt zunehmend destabilisieren, dann sollten die Wissenschaft und die Wissenschaftler sich selbst kritisch hinterfragen und die Konsequenzen ihres Handelns bereits im Vorfeld überdenken. Wenn Erkenntnisse der Psychologie von Wissenschaftlern auf verantwortungslose Weise für das manipulative Targeting von Wählern missbraucht werden, so wie im Fall von Cambridge Analytica, dann erwarte ich Haltung und Klarheit in den Reihen der Wissenschaft. Doch wo wird in der Wissenschaft derzeit kritisch über Algorithmen oder über die Auswertung von Big Data diskutiert? Wo werden in diesen Feldern Chancen und Risiken mit Sachverstand und gesellschaftlicher Perspektive beleuchtet, wo sehen wir den wünschenswerten reflektierten Fortschritt, der beides tut: Potenziale zu destillieren, aber auch rote Linien zu ziehen? Habe ich sie vielleicht übersehen, die Wissenschaftler, die sich weigern an autonomen Waffen zu forschen oder die Ziele einer kommerziellen Datensammelwut zu hinterfragen, auch wenn diese Fragen eine Einschränkung in ihrer eigenen Disziplin zur Folge haben könnte.

Wenn heute gefragt wird: Sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sogar Berater für Politik und Gesellschaft sein?, dann frage ich zurück: Was ist das Ansinnen dieser Frage? Zu oft schon habe ich erleben müssen, dass hinter diesem Wunsch vor allem eines steht: Die Absicherung der eigenen Disziplin. Wenn zum Beispiel von »public understanding of science« die Rede ist, dann meinen viele Forscher, es handele sich lediglich um »public acceptance of science«. Wenn solche Debatten als Marketing für eigene Interessen missverstanden werden, dann greifen sie zu kurz. Ich frage daher ketzerisch: Will die Wissenschaft wirklich diesen kritischen Dialog und wenn ja, was ist sie dafür bereit zu tun?

Anders ist das, wenn Forschungsbudgets gekürzt werden oder Fördergelder stocken. Dann erhebt die Wissenschaft gern ihre Stimme. Im Juni startet Alexander Gerst zu seiner Mission auf die ISS und bei allen Presseterminen fällt ständig das Argument, es handele sich um eine »wissenschaftliche« Mission. Hier wird »wissenschaftliche Erkenntnis« vorgeschoben, obwohl die belastbare Basis hierfür fehlt.

Will die Wissenschaft wirklich den kritischen Dialog?

Das war bei Apollo so, und das ist auch bei der Gersts Mission »Horizons« nicht viel anders. Interessanterweise fehlt die Kritik aus der Reihe der Wissenschaft. Doch wehe, die eigenen Forschungsbudgets stehen zur Disposition, so wie 1990, als der opulente Raumfahrtetat der Bundesrepublik dazu führte, dass man in anderen Forschungsfeldern sparen musste. Plötzlich gab es einen Aufschrei: Im November 1990 veröffentlichte die Deutsche Physikalische Gesellschaft eine scharfe Kritik am Nutzen der bemannten Raumfahrt. Es gab damals einen ganzen Katalog von plausiblen Argumenten gegen die Förderung der teuren bemannten Raumfahrt.

Doch war das dahinterliegende Motiv tatsächlich eine vernünftige kritische Auseinandersetzung über den Nutzen der bemannten Raumfahrt? Wollte man beratend die Prioritäten der Förderung nach wissenschaftlichen Kriterien setzen? Oder ging es lediglich um die Sicherung der eigenen Pfründe? Inzwischen haben die Physiker wohl genug Geld, und obwohl die Sachargumente von damals gegen die teure bemannte Raumfahrt noch immer gelten, hört man keine kritischen Töne mehr. Und so entschwebt Astro Alex ohne Gegenargument auf seine »wissenschaftliche« Mission.

Wenn Wissenschaft glaubwürdig argumentieren will, dann muss sie auch belegen, dass sie nicht nur pro domo argumentiert. Sie muss sich auch dann zu Wort melden, wenn es nicht nur um den eigenen Bereich geht wie zum Beispiel bei der Stammzelldiskussion und sie muss sich auch dann einmischen, wenn die Früchte der eigenen Forschung für falsche Ziele missbraucht werden.

Wissenschaftliche Erkenntnis prägt unseren technischen Fortschritt, doch seine Richtung wird momentan von anderen vorgegeben, und genau hier gilt es anzusetzen. Ein Großteil digitaler Innovationen im Silicon Valley blicken lediglich auf lukrative Businessmodelle. Wenn die ausbleiben, wird nicht geforscht. Es gibt jedoch Ausnahmen: Tim Berners-Lee erfand Anfang der 1990ger Jahre am europäischen Forschungszentrum CERN das World Wide Web. Am 30. April 1993 erklärten die Direktoren des CERN, dass diese WWW-Technologie für alle frei verfügbar sein solle, ohne jegliche Patentansprüche! Ohne diese bemerkenswerte Offenheit, ohne diese entschiedene Haltung Wissen zu teilen und auf einen kurzsichtigen Gewinn zu verzichten, wäre das überwältigende Wachstum des Internets wohl niemals möglich gewesen. Warum verfährt man nicht ähnlich, wenn es um CRISPR geht?

Ich wünsche mir Wissenschaftler, die sich nicht am Markt orientieren, sondern einer verunsicherten Gesellschaft vernünftige und unabhängige Orientierungshilfen anbieten. Diese aufklärerische und nicht käufliche Stimme ist wichtiger denn je, denn weltweit sind unsere Demokratien in Gefahr. Freunde von mir haben ein Projekt mit dem Titel »Science and Democracy« ins Leben gerufen und wollen genau diesen Dialog befördern: Ein Konferenzlabor für eine wissensbasierte Demokratie. An dieser Initiative beteiligen sich die Wissenschaftspressekonferenz, der Bundesverband Hochschulkommunikation und das Science Media Center. Damit dieses – wie ich finde – dringend notwendige Projekt umgesetzt werden kann, braucht es finanzielle Unterstützung. Doch hier wird es zäh. Die Kosten entsprechen übrigens dem Anschaffungspreis eines etwas aufwändigeren Laborgeräts.

In Zeiten, wo Bürger für die Wissenschaft auf die Straße gehen, sollten solche Initiativen mehr Unterstützung erfahren, auch ganz direkt aus den Reihen der Wissenschaft. Dann würde endlich allen bewusst werden, dass der wahre Mehrwert der Wissenschaft für unsere Gesellschaft nicht in ihrem ökonomisch verwertbaren Output liegt, sondern in ihrer selbstbewussten Unabhängigkeit – und in ihrem freien und mitunter befreienden Denken.

Der Kommentar ist eine leicht bearbeitete Fassung eines Impulsreferats von Ranga Yogeshwar auf einer Veranstaltung der Helmholtz-Gemeinschaft am 3. Mai 2018.

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