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Unwahrscheinlich tödlich: Tod durch miese Muscheln

Immer wieder kommt es in der Nähe von Küsten zu giftigen Algenblüten. Dann wird nicht nur das Baden zur Gefahr, sondern auch der Genuss lokaler Meeresfrüchte – egal ob man sie roh oder gekocht isst.
Ein gutes Dutzend frische Miesmuscheln liegt auf einem hellblauen Holztisch
Mahlzeit! Bei Muscheln gibt es jedoch etwas zu beachten, damit es nicht die letzte wird.
Eines ist sicher: Irgendwann geben wir alle den Löffel ab. Weniger absehbar ist das Wie. Denn es gibt eine schier unendliche Zahl an Wegen, die einen Menschen ins Grab bringen können – manche von ihnen außergewöhnlicher, verblüffender und bizarrer als andere. In der Kolumne »Unwahrscheinlich tödlich« stellen wir regelmäßig solche Fälle vor, von bissigen Menschen über giftige Reisbällchen bis hin zu lebensgefährlichem Sex.

Vor vielen Jahren erzählte mir ein Kollege von einem – in seinen Worten – unvergesslichen Urlaubserlebnis: Während er mit dem Kajak eine einsame Küste entlangpaddelte, fischte er direkt aus dem Meer Austern, öffnete sie mit einem Taschenmesser und schlürfte sie leer. Einmal davon abgesehen, dass die Vorstellung von lebenden Tieren in meinem Mund mich keineswegs in eine ähnliche Ekstase wie ihn versetzt, ist ein solches kulinarisches Abenteuer gar nicht ungefährlich. Denn Muscheln können Giftstoffe enthalten, die man weder sieht noch schmeckt oder riecht. Einige von ihnen können die Mahlzeit bereits nach 30 Minuten tödlich enden lassen. Ob man die Weichtiere vor dem Verzehr kocht oder roh isst, macht dabei keinen Unterschied.

Ein 2004 veröffentlichter Bericht aus Chile verdeutlicht die Gefahr. In den Fjorden im Süden des Landes ernteten drei Fischer Seeigel, die in der Region oft auf den Speisetellern landen. In ihrer Mittagspause entschieden sich die Männer dazu, ebenfalls in der Gegend gedeihende Magellanmuscheln zu sammeln und zu verspeisen – obwohl sie wahrscheinlich wussten, dass dies schon seit vielen Jahren verboten war. Allein der Taucher der Gruppe beteiligte sich nicht an dem Mahl. Er überlebt als Einziger die folgenden Stunden. Nach seiner Rettung berichtet er der Polizei, was er an Bord des Boots erlebt hatte.

Eine halbe Stunde nachdem seine beiden Kollegen jeweils sieben bis neun Muscheln gegessen hatten, entwickelte einer von ihnen erste Vergiftungssymptome. Seine Lippen begannen zu prickeln und wurden gefühllos. Er klagte über Übelkeit und hatte immer größere Probleme, sich zu bewegen. Noch während das Boot Kurs auf die nächstgelegene Stadt nahm, starb der Mann. Zugleich bemerkte der Kapitän, dass seine Zunge zunehmend taub wurde und die Muskeln in seinem Oberkörper schwächelten. Eine Stunde später war auch er tot. Die chilenische Marine barg kurz darauf den Taucher als einzigen Überlebenden und brachte ihn zurück an Land.

Muscheln mit Biowaffencharakter

Die Polizei sicherte übrig gebliebene Muscheln, die sich noch an Bord befanden, und sandte sie an ein Speziallabor. Hier testeten Fachleute sie auf ihren Schadstoffgehalt. Dabei maßen sie knapp 86 Milligramm Saxitoxin pro Kilogramm Muschelfleisch; weniger als zehn Gramm der untersuchten Proben enthielten somit genug Gift, um einen Menschen zu töten. Im Vergleich zu einem anderen bekannten Nervengift, dem chemischen Kampfstoff Sarin, wirkt Saxitoxin in ungefähr 1000-fach geringeren Dosen tödlich. Seine Wirkung ähnelt dabei der des Kugelfischgifts Tetrodotoxin. Beide blockieren bestimmte Ionenkanäle in den Zellen und verursachen so Missempfindungen wie prickelnde Lippen oder eine taube Zunge sowie Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen, Wahrnehmungsstörungen und Muskelschwäche. In hohen Dosen lähmen sie die Muskulatur und führen zum Atemstillstand.

Das Besondere an solchen Muschelvergiftungen ist, dass die Weichtiere die Neurotoxine nicht selbst herstellen. In den meisten Fällen ist es deshalb vollkommen unbedenklich, Magellanmuscheln und verwandte Arten zu essen. Woher kommt das Gift also? Das Rätsel ist leicht gelöst: Die Tiere nehmen es mit ihrer Nahrung auf. Als Filtrierer besteht ihre Diät vorrangig aus im Wasser treibenden Plankton, zu dem winzige Algen und Bakterien zählen. Es sind diese Lebewesen, die die gefährlichen Chemikalien herstellen. Nachdem die Muscheln ihr Futter eingesaugt haben, reichern sich die Gifte in ihrem Fleisch an. Neben Miesmuscheln können sie auch in Venusmuscheln und Austern hohe Konzentrationen erreichen. Selbst in anderen Meerestieren kommen sie gelegentlich vor. So wiesen Fachleute 2009 in Kroatien nach sechs Vergiftungsfällen bedenkliche Mengen Neurotoxine in Seescheiden nach. Auch im spanischen Galizien maß man bereits kritische Werte in mehreren Meeresfrüchten, darunter in Tintenfischen.

Farbenfrohe Giftbrühe

Meist stehen die Ansammlungen mit Algenblüten in Verbindung, die man im englischen Sprachraum »red tide« (deutsch: rote Flut) nennt. Sie gehen auf die massenhafte Vermehrung bestimmter Mikroorganismen zurück. Diese gedeihen vor allem dann, wenn die Umgebung sehr warm und zugleich nährstoffreich ist – das Risiko steigt also mit der Klimaerwärmung und mit der Menge an Dünger, die in ein Gewässer eingeschwemmt wird. Oft entstehen tatsächlich rot oder orange verfärbte Stellen im Wasser, doch auch grüne und bläuliche Blüten kommen vor. Hinter Letzteren stecken meist Blaualgen, die Badenden und Tieren hier zu Lande gelegentlich gefährlich werden.

Manche Muscheln scheiden aufgenommene Toxine relativ rasch aus. Miesmuscheln können sie etwa innerhalb einer Woche wieder loswerden. In anderen Arten bleiben sie jedoch teils jahrelang angereichert. Nur weil es in ihrem Lebensraum aktuell keine Algenblüte gibt, macht das ihren Verzehr also nicht gleich sicher.

Die gute Nachricht ist: Weichtiere, die für den Konsum bestimmt sind, werden in der Regel engmaschig kontrolliert. In der Europäischen Union liegt der erlaubte Grenzwert für Saxitoxin und verwandte Nervengifte bei 0,8 Milligramm pro Kilogramm Fleisch. Die Gefahr, sich mit gekauften Meeresfrüchten zu vergiften, ist also gering. Dass sie jedoch nicht gleich null ist, zeigt ein aktueller Vorfall in den USA. Dort rief am 05.06.2024 die Bundesbehörde Food and Drug Administration (FDA) in der Vorwoche in Oregon geerntete Muscheln zurück, weil sie in Proben erhöhte Toxinwerte nachwies.

Am gefährlichsten ist es, die Tiere selbst zu sammeln. Das gilt insbesondere dann, wenn ausdrücklich davor gewarnt wird oder wenn man sie in schlecht überwachten Küstenabschnitten erntet. Machen Sie es also besser nicht wie mein Kollege damals und genießen Sie Meeresfrüchte nur, sofern sie aus einer sicheren Quelle stammen.

  • Steckbrief: Paralytische Muschelvergiftung, »Paralytic Shellfish Poisoning« (PSP)
    Algenblüte | Wenn das Wasser wie an diesem neuseeländischen Strand auffällig gefärbt ist, könnte eine Algenblüte dahinterstecken. In dem Fall ist es ratsam, dort nicht zu schwimmen und auch auf den Genuss lokaler Meeresfrüchte zu verzichten.

    Auslöser: Meeresfrüchte, vor allem Muscheln, die mit Saxitoxin und verwandten Nervengiften kontaminiert sind.

    Ursprung der Toxine: Weichtiere nehmen die Giftstoffe über ihre Nahrung auf, die überwiegend aus Plankton besteht; besonders gefährlich sind Dinoflagellaten (einzellige Algen) der Gattungen Alexandrium, Gymnodinium und Pyrodinium sowie zahlreiche Arten von Cyanobakterien (Blaualgen).

    Vorkommen: erhöhtes Risiko bei bestimmten Algenblüten, die vorwiegend in den warmen Monaten in nährstoffreichem Salz- oder Süßwasser in der gemäßigten Zone entstehen.

    Krankheitspotenzial: Nach dem Verzehr betroffener Weichtiere entsteht eine Lebensmittelvergiftung, zu deren Symptomen diverse Missempfindungen sowie Muskelschwäche zählen; der Tod erfolgt durch Lähmung der Atemmuskeln – ohne Beatmungstherapie kann er bereits nach 30 Minuten eintreten.

    Häufigkeit: Pro Jahr werden etwa 2000 Fälle gemeldet; je nach Studie liegt die Sterberate zwischen 1,5 und 15 Prozent.

    Besonderheiten: Neben PSP gibt es noch weitere gefährliche Muschelvergiftungen, deren Symptome sich auf Grund der beteiligten Giftstoffe unterscheiden; die amnetische (gedächtnisstörende) Form ASP geht auf Domoinsäure aus bestimmten Rot- und Kieselalgen zurück; die diarrhöische (Durchfall auslösende) und die neurotoxische Form vermitteln Okadasäure beziehungsweise Ciguatoxin aus unterschiedlichen Dinoflagellaten.

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