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Kolumnen: Vom Gesäß und dem Fortschritt

Die Venus-Raute (Michaelis-Raute)
Hirn, Hirn, Hirn, immer nur Hirn ... ich hab' keine Lust mehr auf Gehirn und Geist. Am anderen Ende des Körpers gibt es mindestens ebenso spannende Organe und Funktionen. Vom Hintern will ich schreiben, von seiner Schönheit und dem Fortschritt der Wissenschaft, von honorigen Männern und der Melancholie. Jawohl!

Freilich aus einer durch und durch männlichen, heterosexuellen Perspektive. Die Damen und Herren und Androgynen und sonstigen Wechselwesen aus der Gender-Mainstreaming-Ecke mögen mir das verzeihen, zumal das, was ich zu schreiben gedenke, gänzlich unpolitisch ist. Denn, nein, die "Fortschrittlichkeit", von der ich reden möchte, wird nicht darin bestehen, dass ich der Einrichtung eines Lehrstuhles für "Kallipygische Gleichstellung" das Wort reden werde, um dann meinen eigenen Hintern draufzusetzen. Oh nein!

Obwohl: Fast hätte die "Kallipygiologie" doch einen eigenen Lehrstuhl verdient, denn "kallipygos" ist so ein herrliches Wort: es heißt "schönhintrig". Gehen Sie zu Google, geben Sie bei der Bildsuche "Venus kallipygos" ein: voilà, lauter Damen. So Sie, geschätzter Leser, ein Mann sein sollten, können Sie jetzt an sich selbst überprüfen, ob eine meiner Lieblingshypothesen zur Psychologie des heterosexuellen Mannes zutrifft. Männer, so denke ich nämlich, fallen im Wesentlichen in zwei Kategorien: die Mammophilen und die Glutaeophilen. "Mamma" ist klar, das meint die weibliche Brust. "Ho glutos" ist schon wieder griechisch und heißt "die Pobacke". Das "-phil" ist der Freund.

Gut, ich gebe zu, dass sich vermutlich ein nicht geringer Teil meiner Geschlechtsgenossen in der Kategorie der polymorph Perversen (Fußnote 1) wiederfindet und sich daher nicht so recht entscheiden kann. Die meisten jedoch, die ich kenne, sortieren sich rasch in die eine oder die andere Kategorie. Die Glutaeophilen halt' ich generell für die reiferen Charaktere. Kunststück: Ich bin selber einer. Aber sicher!

Nein, das mit der Reife der Glutaeophilen, das zu begründen bin ich hier nicht angetreten. Das verkünde ich jetzt einfach mal ex cathedra und rufe dabei den Unfehlbarkeitsanspruch meiner eigenen ästhetischen und erotischen Wahrnehmungen und meiner Assoziationsketten (2) zum Zeugen an. Jetzt muss das ganze natürlich noch anatomisch unterfüttert werden, einfach nur Hintern gucken und sich freuen, das ist zu wenig. Man hat ja einen Bildungsauftrag (vornehmlich übrigens an sich selbst!) und sollte wissen, an was man sich da eigentlich freut. Also los!

Zur Einstimmung auf die Anatomie des Gesäßes erstmal ein Bild: die Venus mit dem Spiegel von Velázquez.

Diego Velázquez: Venus mit dem Spiegel, zirka 1650 |

Schön liegt sie da. Und wenn Ihre Begeisterung für diese herrliche Rückenansicht sich gelegt hat, dann nehmen Sie doch bitte mal das nächste Bild in Augenschein.

Pan troglodytes, der Schimpanse

Die "take-home-message", die aus dem Vergleich beider Bilder hervorgeht, ist ganz einfach: Der Affe hat keinen Hintern, zumindest keinen schön gerundeten. Kein Affe hat einen Hintern, kein Ochs, kein Pferd und keine Kuh. Hinternhaben ist ein zutiefst menschliches Merkmal, ein Markenzeichen der Humanität, was mich in meiner Ansicht bestärkt, dass man ihn wertschätzen sollte, den Hintern. Wieso die Affen keinen Arsch haben und die Pferde keinen Po (man bedenke die geradezu schamlose Offenheit, mit der die Tierwelt Körperein- und Ausgänge zu Schau stellt!) – das ist eine ganz andere Geschichte, die mit dem aufrechten Gang zu tun hat.

Heute will ich aber von etwas anderem erzählen. Von der Venus-Raute, von einem löblichen Manne, von der Geburtshilfe und dem Fortschritt in Gestalt der Dampfeisenbahn. Gucken Sie doch der Venus von Velázquez mal genau auf den Hintern. Sie wird's nicht übelnehmen, dafür hat er sie ja gemalt. Gleich oberhalb des Beginns der tiefen Furche, die die Pobacken trennt ("Crena ani") finden Sie ein rautenförmiges, ein wenig hervorstehendes Feld. Nach unten ist sein Eckpunkt der Eingang zu besagter "Crena ani", seitlich wird es von zwei Grübchen, den "Fossulae lumbales" und nach oben hin von der Rinne begrenzt, die sich über den Dornfortsätzen der Wirbel erstreckt.

Die Venus-Raute (Michaelis-Raute)

Das ist die Venus-Raute, auch Lendenraute genannt. An ihren Ecken ist die Haut an darunterliegenden Knochenpunkten fixiert, und weil Frauen im Allgemeinen mehr Fett in der Haut der Gesäßregion einlagern als Männer, wölbt sich diese Raute bei ihnen deutlicher vor. Ich find' das sehr sexy, aber das tut nichts zur Sache. Wohl aber tut es etwas zur Sache, dass man sie auch die "Michaelis-Raute" nennt.

Gustav Adolph Michaelis (1798-1848)

Das ist der frisch promovierte Herr Dr. Michaelis (3), im Jahr 1822. Ein schöner Mann, ein zarter Mann, ein Mann mit Sinn für Ästhetik. Er war Gynäkologe in Kiel. Und ihm fiel auf, dass man die Gestalt der Lendenraute – genauer gesagt: deren Höhe und mögliche Asymmetrien – verwenden kann, um die Weite (oder Enge oder Schiefe) des Geburtskanals zu prognostizieren. Er konnte also wohl einer Frau auf den Hintern sehen und sagen: "Hm – das wird eine schwierige Geburt!"

Er muss ein sehr guter Geburtshelfer gewesen sein. Wann immer es ging, griff er nicht zum Messer (Kaiserschnitte gab's damals schon!), sondern half, auch bei engem Becken, den Kindern per Hand auf die Welt. Trotzdem starben ihm die Wöchnerinnen weg wie die Fliegen und die Kinder gleich mit, und zwar am Kindbettfieber (4). Was schlicht daran lag, dass die Ärzte – anders als manche gewieften Hebammen – sich nicht die Hände wuschen, bevor sie in den gebärenden Frauen herumwerkelten. Was wiederum damit zu tun hatte, dass damals noch keinerlei Vorstellung von "Mikroorganismen" und "bakterieller Infektion" existierte. Der Herr Professor Ignaz Semmelweis hatte zwar die Lösung gefunden: "Hände mit Chlorkalk-Lösung waschen!" Aber weil man nicht wusste, warum das Desinfizieren der Hände half, verwarf man es als Spökenkiekerei und schwarze Magie. Unwissenschaftlich. Außerdem tat der Chlorkalk den zarten Gynäkologen-Händen nicht gut und sterile Gummihandschuhe waren auch noch nicht erfunden.

Michaelis aber begann, sich die Hände zu desinfizieren, und die Anzahl der Kindbettfieberfälle in Kiel sank auf null. Ein echter Fortschritt. Jeder andere hätte jetzt auf den Putz gehauen und ein großes Bohei angesichts seines Erfolgs veranstaltet. Der Herr Michaelis aber wurde melancholisch. Er dachte an die vielen Frauen und Kinder, die ihm unnötigerweise gestorben waren, darunter sogar eine seiner Kusinen. Hätte er Semmelweis' Entdeckung nur früher kennen gelernt! Alles wurde ihm immer schwerer, und er schrieb: "Ich muss gegen eine hypochondrische Mutlosigkeit oft anarbeiten; es steht mir alles, auch Kleinigkeiten, wie Berge entgegen. Mein Verstand sieht die Torheit davon ein, aber was kehrt sich mein Gemüth daran."

Er war ein Ästhet, das erkennt man an seiner Wertschätzung des Gesäßes und der Schönheit seiner Sprache. Er war ein Melancholiker, aber, wie wir gesehen haben, ein fortschrittlicher. Und, progressiv wie er war, bediente er sich des damals allermodernsten Verkehrsmittels, nämlich der erst 1843 gegründeten Königlich Hannöverschen Staatseisenbahn, um seiner Melancholie abzuhelfen: 1848 warf er sich in Lehrte bei Hannover vor den fahrenden Zug.

Man hat ihn in Celle begraben. Und wenn Sie das nächste Mal einer Frau auf den Hintern schauen und die Venus-Raute bewundern, dann denken Sie bitte auch ein wenig an den unglücklichen Herrn Michaelis. Denn zur Reife, die den Glutaeophilen auszeichnet, gehört stets auch ein gewisses Maß an Melancholie.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:
(1) Das passt natürlich inhaltlich an dieser Stelle gar nicht. Ich will ja nicht von Perversionen reden. Aber der Begriff ist so schön, so musikalisch, hat so einen herrlichen jambischen Rhythmus, ist so voller Alliterationen und erlaubt so viele Assoziationen – ich musst' ihn niederschreiben. Ach Sigmund, was konntest du schreiben, was konntest du für schöne Worte finden. "Polymorphe Perversion" – "vielgestaltige Verdrehtheit". Wär's nicht eine psychiatrische Diagnose oder eine frühkindliche Entwicklungsphase, wär's für einen kreativen Menschen fast ein Kompliment.

(2) Die Mammae nähren. Ein Symbol der Abhängigkeit, der unmittelbaren Nähe. Der Hintern aber (und ich rede hier notabene von ihm, und nicht von der Vulva oder dem Anus) ist das Organ der Distanz und der Unabhängigkeit. Wie könnt' ich einer Frau längerer Zeit auf die Brust schauen, ohne dass sie es merkt? Minutenlang jedoch kann ich einer hinterhergehen ... der Hintern ist das Organ für den Voyeur. Der Hintern offenbart nichts: Er birgt. Mit ihm selbst kann ich nichts anfangen, er nährt nicht, wie die Brust es tut, er gibt nichts, was mich interessierte, er birgt, was ich womöglich durchdringen will. Er schiebt sich – als schiere Ästhetik – vor den geschlechtlichen Akt. Er ist, mit anderen Worten, reine Erotik, Kunst am Bau.

(3) Ich beziehe mein Wissen über Herrn Michaelis aus dem lesenwerten Aufsatz: "Gustav Adolph Michaelis – Arzt, Forscher, Lehrer" von G. Neitzke und St. Hoffmann in "Der Gynäkologe", Band 32, 1999, Seiten 660-664.

(4) Eine aufsteigende bakterielle Infektion (Staphylokokken, Streptokokken, Escherichia coli), die durch die klaffende Wunde, die die Plazenta im Uterus hinterlässt bzw. durch die Nabelschnur in den Körper eindringt.

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