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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die seltsamsten Paradoxa der Mathematik

Ein Barbier rasiert alle Männer, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich selbst? Die Mathematik steckt voller scheinbarer Widersprüche. Doch sie lassen sich erklären.
Unmögliches Dreieck
In der Mathematik muss man meist nicht lange suchen, um auf vermeintlich Widersprüchliches zu stoßen.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

In vielen Situationen ist es hilfreich, auf sein Bauchgefühl zu hören. Doch unsere Intuition liegt auch öfter daneben – vor allem in der Mathematik. In dem Fach begegnet man ständig Ergebnissen, die unmöglich erscheinen. Einige Beispiele dafür habe ich in vergangenen Artikeln bereits beschrieben, etwa die Tatsache, dass es genauso viele gerade Zahlen (2, 4, 6, 8, ...) wie natürliche Zahlen (1, 2, 3, 4, 5, …) gibt; oder dass sich eine Kugel in Einzelteile zerlegen und zu zwei einzelnen Kugeln mit jeweils dem ursprünglichen Volumen verdoppeln lässt – oder dass eine Wahrscheinlichkeit von null nicht bedeutet, dass ein Ereignis nicht eintreten kann.

In der Mathematik gibt es darüber hinaus viel mehr Fälle, die auf den ersten Blick (und manchmal auch auf den zweiten oder dritten) widersprüchlich erscheinen. Glücklicherweise lassen sich all diese »Paradoxa« erklären. Sie stellen also keine Fehler oder Unvollständigkeiten des Fachs dar, sondern erinnern uns daran, dass man sich in der Mathematik nicht allzu stark auf seine Intuition verlassen sollte. Um das zu verdeutlichen, präsentiere ich hier drei der seltsamsten Paradoxa der Mathematik.

Hilberts Hotel

Stellen Sie sich vor, Sie reisen in eine Stadt und haben vergessen, zuvor ein Zimmer zu reservieren. Zum Glück erblicken Sie ein schönes Hotel, das überdies nach dem berühmten Mathematiker David Hilbert benannt ist, dessen Arbeiten sie sehr schätzen. Sie treten an die Rezeption und sehen, dass das Hotel über unendlich viele Räume verfügt: Die Zimmernummern entsprechen den natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, … – ohne jemals ein Ende zu finden.

Allerdings teilt Ihnen der Rezeptionist mit, dass das Hotel ausgebucht ist. Da Sie sich aber mit Mathematik auskennen, lassen Sie sich nicht so einfach abspeisen. Sie kennen nämlich einen Trick, mit dem Sie – und alle anderen unendlich vielen Gäste – dort Platz finden. Daher schlagen Sie dem Mitarbeiter am Empfang vor: »Bitten Sie jeden Gast, in das Zimmer mit der um eins höheren Zimmernummer umzuziehen. Die Person aus Zimmer 1 geht demnach in Zimmer 2, die aus Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter.«

Da Hilberts Hotel unbegrenzt viele Zimmer zur Verfügung hat, bietet selbst ein ausgebuchter Zustand noch Platz für weitere Gäste. Und das ist nicht nur bei einer einzelnen Person der Fall: Sie hätten auch eine ganze Busladung voller Menschen mitbringen können, die ebenfalls ein Zimmer möchten. In diesem Fall müssten die Gäste des Hotels nicht nur ein, sondern mehrere Zimmer weiterziehen.

Und es wird noch verrückter: Selbst wenn Sie unendlich viele Personen zu Hilberts Hotel führen, kann man diese im eigentlich ausgebuchten Hotel unterbringen. Dafür müsste der Gast aus Zimmer 1 in Zimmer 2, die Person aus Zimmer 2 in Zimmer 4, der Gast aus Zimmer 3 in Zimmer 6 und so weiter. Indem jede Person ein Zimmer mit der doppelten Zimmernummer bezieht, werden unendlich viele Zimmer frei.

Hilberts Hotel | Indem jeder Gast in ein Zimmer zieht, dessen Nummer doppelt so hoch ist wie seine aktuelle, finden unendlich viele zusätzliche Personen Platz.

David Hilbert trug dieses vermeintliche Paradoxon während einer Vorlesung im Jahr 1925 vor, als er über die Unendlichkeit lehrte. Das Beispiel verdeutlicht, dass sich nicht alle Konzepte von endlichen auf unendliche Fälle übertragen lassen: Die Aussagen »Jedes Zimmer ist belegt« und »Das Hotel kann keine weiteren Gäste aufnehmen« sind in der realen Welt gleichbedeutend – in einer Welt mit Unendlichkeiten jedoch nicht.

Das Geburtstagsparadoxon

Das nächste vermeintliche Paradoxon kommt wahrscheinlich vielen bekannt vor. In meiner Schulzeit war es gar nicht selten der Fall, dass mehrere meiner Mitschülerinnen und Mitschüler am selben Tag Geburtstag hatten. Tatsächlich teilte auch ich mir mit einer Klassenkameradin einen Geburtstag. Das erscheint zunächst wie ein riesiger Zufall, schließlich hat ein Jahr 365 Tage (beziehungsweise in Schaltjahren 366, aber das ignorieren wir der Einfachheit halber), und eine Schulklasse besteht aus rund 20 bis 30 Schülerinnen und Schülern. Das Bauchgefühl sagt uns somit, dass es unwahrscheinlich ist, dass zwei Kinder am selben Tag geboren sind.

Doch das stimmt nicht. Tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen unter einer Gruppe von 23 Menschen am selben Tag Geburtstag haben, mehr als 50 Prozent. Um das besser nachzuvollziehen, hilft es, nicht die Anzahl der Personen zu betrachten, sondern die Anzahl an Personenpaaren. Aus 23 Menschen lassen sich bereits 23·222 = 253 Paare bilden – und diese Anzahl übersteigt die Hälfte aller Tage, die ein Jahr hat. Betrachtet man hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner Schüler einer 23-köpfigen Schulklasse an einem bestimmten Datum geboren ist, entspricht die Wahrscheinlichkeit bloß 23365 = 6,3 Prozent.

Das Geburtstagsparadoxon ergibt sich also dadurch, dass man durch den Blick auf Paare von Schülern sehr viele Möglichkeiten erhält – viel mehr, als wenn man nur einzelne Personen anschaut.

Geburtstagsparadoxon | Die grünen Punkte geben die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass zwei Personen aus einer Gruppe (Gruppengröße auf der x-Achse vermerkt) am selben Tag Geburtstag haben. Die blaue Linie entspricht der Wahrscheinlichkeit, dass eine Person an einem bestimmten Datum Geburtstag hat.

Diese Tatsache hat handfeste Auswirkungen, zum Beispiel in der Kryptografie. Möchte man zum Beispiel einen digitalen Vertrag signieren, werden dabei »Hashfunktionen« genutzt: Das Dokument wird durch die Unterzeichnung in eine Zeichenkette (einen »Hash«) fester Länge umgewandelt. Nimmt man eine noch so kleine Änderung an dem ursprünglichen Dokument vor und bildet davon den Hash, ergibt sich daraus eine völlig andere Zeichenkette. Indem die unterzeichnende Person also ihren Hash aufbewahrt, kann sie belegen, was sie ursprünglich unterschrieben hat – damit ist das Verfahren fälschungssicher. Allerdings besteht die extrem geringe Wahrscheinlichkeit, dass zwei völlig unterschiedliche Dokumente ein und denselben Hash erzeugen. Und das stellt ein Sicherheitsrisiko dar.

In der Regel ist die Länge der Hashfunktion so gewählt, dass solche »Kollisionen« (bei denen zwei unterschiedliche Datensätze denselben Hash ergeben) extrem selten sind. Doch ein Hacker kann einen »Geburtstagsangriff« vornehmen: Er kann viele verschiedene Dokumente erzeugen und deren Hashfunktionen paarweise miteinander vergleichen – so wie ein Lehrer die Geburtstage von Mitschülern gegenüberstellt, anstatt sich auf ein spezielles Datum und einen einzelnen Schüler festzulegen.

In der Praxis könnte ein Geburtstagsangriff so aussehen: Ich erzeuge zunächst zwei Verträge V1 und V2, wobei V1 fair ist, aber V2 mich bevorteilt. Dann verändere ich beide Verträge an verschiedensten Stellen: Ich füge Leerzeichen, Tabs und Zeilenumbrüche hinzu und erzeuge dadurch Variationen von V1 und V2. Diese Änderungen sind für einen Lesenden quasi unsichtbar, führen aber dazu, dass sich die jeweilige Hashfunktion der Dokumente drastisch ändert. Wenn ich die einzelnen Hashfunktionen der veränderten Verträge V'1 und V'2 paarweise miteinander vergleiche, werde ich sehr viel schneller auf einen übereinstimmenden Hash stoßen, als wenn ich gezielt versuche, einen bestimmten Hash (etwa den von V1) zu reproduzieren. Wenn ich ein übereinstimmendes Paar V'1 und V'2 finde, kann ich Ihnen den Vertrag V'1 zum Unterzeichnen geben, hinterher aber behaupten, Sie hätten V'2 unterschrieben – da beide denselben Hash erzeugen, lässt sich der Betrug nicht aufdecken.

Die Russellsche Antinomie

Dieses Beispiel ist der einzig echte Widerspruch, den ich in dieser Kolumne präsentiere. Denn im Gegensatz zu Hilberts Hotel und dem Geburtstagsparadoxon ist die Russellsche Antinomie kein Ergebnis, das sich bloß unserer Intuition entzieht. Es widerspricht den Regeln der Logik an sich. Denn die Antinomie erzeugt Aussagen, die weder falsch noch wahr sein können. Ein berühmtes Beispiel dafür ist das Barbier-Paradoxon.

Angenommen, in einem Ort rasiert ein Barbier alle männlichen Bewohner, die sich nicht selbst rasieren – und zwar nur die. Die Frage ist, ob der Barbier sich selbst auch rasiert. Würde er sich selbst rasieren, dann gehört er nicht mehr zu jener Gruppe an Personen, die sich selbst nicht rasieren. Wenn er sich selbst aber nicht rasiert, dann müsste er sich per Definition rasieren (da alle Bewohner zu ihm gehen, die sich nicht selbst rasieren).

Der Grund, warum dieses Problem entsteht, ist die mangelnde Definition von Mengen. Als Russell seine Antinomien äußerte, bezeichnete eine Menge ganz allgemein eine Sammlung von Dingen: Die natürlichen Zahlen bilden beispielsweise eine Menge, ebenso wie die Menge aller Bewohner, die sich nicht selbst rasieren. Damit ist es auch erlaubt, dass Mengen sich selbst enthalten oder auf sich als Gesamtes Bezug nehmen – und diese Eigenschaften führen zu Widersprüchen. Die Antinomien führten daher zu einem Ende der »naiven Mengenlehre«.

Das Fundament der Mathematik baut weiterhin auf der Mengenlehre auf; allerdings stellen Mengen in diesem Konstrukt keine bloßen Sammlungen mehr dar, sondern müssen gewisse Bedingungen erfüllen. Zum Beispiel müssen sich Mengen aus bereits bestehenden Mengen zusammensetzen und dürfen sich nicht auf sich selbst beziehen. Damit werden Antinomien wie das Barbier-Paradoxon ausgeschlossen.

Dieses sieht in mathematischer Schreibweise nämlich so aus: Die männlichen Bewohner mit Bartwuchs bilden eine Menge M. Die männlichen Bewohner mit Bartwuchs, die sich selbst rasieren, sind ein Teil von M, genauso wie jene Bewohner, die sich nicht selbst rasieren. Nun kann der Ort einen Barbier haben, der die männlichen Bewohner rasiert. Wenn man aber nun die Menge K aller Kunden des Barbiers bilden will, muss man die Regeln der modernen Mengenlehre befolgen. Falls der Barbier selbst ein männlicher Bewohner mit Bartwuchs ist (also Teil von M), dann kann die Kundenmenge nicht als »alle männlichen Bewohner, die sich nicht selbst rasieren« definiert sein – denn in diesem Fall würde sich die Definition auf sich selbst beziehen, weil sowohl der Barbier als auch die Kunden Teil von M sind. Die Mengenlehre lässt eine solche Definition schlicht nicht zu. Ist der Barbier hingegen nicht Teil von M, weil er etwa eine Frau oder ein Kind ist, dann ist die Definition erlaubt.

Damit können wir nun aufatmen: Die Paradoxa sind gelöst und die Mathematik nicht zum Scheitern verurteilt. Doch tatsächlich gibt es keine Garantie dafür, dass die mathematischen Regeln nicht doch irgendwann einen Widerspruch hervorbringen, der sich nicht beseitigen lässt. Das hat der Logiker Kurt Gödel in den 1930er Jahren bewiesen – und damit besteht keine Sicherheit, dass die Mathematik für immer und ewig in sich geschlossen funktioniert. Das Beste, was wir tun können, ist hoffen, dass ein unlösbarer Widerspruch niemals auftritt.

Sie haben auch ein Lieblingsthema zu Mathematik und würden gerne mehr darüber in dieser Kolumne lesen? Dann schreiben Sie es mir gerne in die Kommentare!

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