Freistetters Formelwelt: Von Mengen und Mengen aller Mengen
In dem Mathematik-Lehrbuch, das ich mir zu Beginn meines Studiums gekauft habe (»Höhere Mathematik 1«, Meyberg & Vachenauer) findet man auf der ersten Seite als erste Formel diese hier:
Diese Gleichung »kennzeichnet eine Menge mit endliche vielen Elementen«, wie das Lehrbuch erklärt, und sie ist nicht schwer zu verstehen. Eine Menge, so wie sie hier beschrieben wird, kann man sich auch anschaulich sehr gut vorstellen. Als Einkaufskorb etwa, der voll mit verschiedenen Produkten ist. Als Reihe von Zahlen, Gruppe von Personen oder Seiten eines Buchs. In der Mathematik geht der Begriff der Menge aber weit über unsere anschauliche Vorstellung hinaus.
Das Konzept der Menge bildet in der modernen Mathematik das Fundament, auf dem fast alles andere aufgebaut ist. Das, was wir etwa unter »Zahlen« verstehen, wird aus der Definition von Mengen abgeleitet und damit auch der ganze Rest der Mathematik. Sie ruht seit den 1920er Jahren auf der sogenannte Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre. Es handelt sich dabei um eine sogenannte »axiomatische Mengenlehre«, die im Gegensatz zu früher verwendeten »naiven Mengenlehren« diverse Paradoxien vermeidet.
Zu den berühmtesten dieser Probleme gehört wahrscheinlich Bertrand Russells »Menge aller Mengen«. Der britische Logiker, Mathematiker und Philosoph entdeckte das Paradoxon im Jahr 1901: Angenommen, man definiert eine »Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten«. Das klingt verwirrend, ist aber prinzipiell machbar. Eine »Menge aller Menschen mit roten Haaren« ist zum Beispiel mit Sicherheit selbst kein Mensch mit roten Haaren. Und damit ein Element der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Gleiches gilt für viele anderen Mengen. Wie sieht es nun aber mit Russells Menge selbst aus? Ist die »Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten« ein Element ihrer selbst oder nicht? Geht man davon aus, dass sie kein Element ihrer selbst ist, dann wäre sie eine Menge, die sich nicht selbst enthält und müsste sich genau deswegen aber selbst enthalten! Und wenn sie sich selbst enthält, dann ist sie kein Element der Mengen, die sich nicht selbst enthalten und kann sich deswegen nicht selbst enthalten.
Wenn die Menge sich selbst als Element enthält, dann folgt daraus also logisch, dass sie kein Element ihrer selbst ist. Enthält sie sich nicht selbst als Element, folgt ebenso logisch, dass sie ein Element ihrer selbst sein muss. Das ist ein einwandfreier Widerspruch und ähnliche Widersprüche fand man gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der naiven Mengenlehrer immer wieder. Um das zu vermeiden schuf man axiomatischen Mengenlehren wie die von Zermelo-Fraenkel. Hier wird von Anfang an »verboten«, dass sich widersprüchliche Aussagen wie die von Russell überhaupt stellen. Zum Beispiel in dem man – vereinfacht gesagt – fest legt, dass solche »Mengen aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten«, nicht existieren dürfen.
Heute nimmt man zwar an, dass die ZFC-Mengenlehre widerspruchsfrei ist. Zumindest sind bis jetzt keine weiteren Widersprüche aufgetaucht. Dass dies auch weiterhin so bleibt, ist allerdings mathematisch nicht beweisbar. Kurt Gödel hat mit seinen berühmten »Unvollständigkeitssätzen« im Jahr 1930 gezeigt, dass es unmöglich ist die Widerspruchsfreiheit der ZFC-Mengenlehre zu beweisen, wenn sie tatsächlich widerspruchsfrei ist.
Bis in diese Abgründe der mathematischen Logik und Philosophie hat sich mein Lehrbuch aus dem ersten Semester allerdings nicht vorgewagt. In den meisten Fällen des mathematischen Arbeitsalltages kommt man mit diesen Problemen auch nicht in Kontakt. Sondern verlässt sich auf die Stabilität des Fundaments, dass von den erstaunlich simplen und gleichzeitig höchst komplexen Mengen gebildet wird.
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