Kolumnen: Von Plakoden und anderen Ungeheuerlichkeiten
Was haben die Riechschleimhaut, der fünfte Hirnnerv, eine Hahnenfeder, die elektrischen Sinnesorgane der Fische und ein chinesischer Tempel miteinander zu tun? Ein Abenteuerurlaub in der Anatomie gibt Einblick in die Abgründe von Philosophie und Logik.
Was haben die Riechschleimhaut, der fünfte Hirnnerv, die Linse Ihres Auges, sämtliche Haare, die Sie (noch) haben, Ihr Zahnschmelz, Ihr Innenohr, der vordere Teil Ihrer Hirnanhangsdrüse, eine Hahnenfeder, Ihr höchstpersönlicher guter Geschmack, die elektrischen Sinnesorgane der Fische und ein chinesischer Tempel miteinander zu tun?
Das Alltagswissen sagt: nichts. Aber wenn das so wäre, dann wäre diese Glosse an dieser Stelle auch schon zu Ende. Also müssen sie doch etwas miteinander zu tun haben. Und was sie miteinander zu tun haben, das ist nicht nur ein Lehrstück in Anatomie, sondern auch in Philosophie – denn wir werden zwei garstige Ungeheuer ihr Haupt erheben sehen, nämlich das "Tertium comparationis" (siehe Fußnote 1) und die "Inkommensurabilität" (2). Und zwischen beiden müssen wir hindurch, wie Odysseus zwischen Szylla und Charybdis. Und die beiden Untiere sind sich gegenseitig nicht grün und dem, der zwischen ihnen einhersegelt, erst recht nicht. Also auf: Abenteuerurlaub in der Anatomie.
Die Reise beginnt ganz harmlos, mit der Vermutung eines Tippfehlers im Titel der Glosse. Plakoden? Das steht nicht im Fremdwörterlexikon ... wollt’ er nicht Pagoden schreiben? Fernöstliche Tempel?
Nein, wollt’ er nicht. Plakode kommt von griechisch plakos/plax, und das heißt: der Flecken. Also ein umschriebener Klecks von irgendwas. Und schon sind wir knapp vor dem gefräßigen Maul des ersten Ungeheuers, des Tertium comparationis. Denn all die oben genannten Strukturen gehen im Laufe der Embryonalentwicklung aus "Flecken" hervor, aus umschriebenen, verdickten Bereichen in der Haut des Embryos, die man eben Plakoden nennt. Und – da sehen Sie mal, wie gefräßig das Ungeheuer ist – schließlich entsteht auch eine Pagode auf einer Plakode (also einem umschriebenen Flecken Landes), und schon haben wir das Tertium comparationis eines chinesischen Tempels mit unserer Riechschleimhaut entdeckt.
Das sei trivial, sagen Sie? Schließlich müsse es ja so sein, weil – zumindest in der Embryologie – ja völlig klar sei, dass alle verschiedenen Organe, all die verschiedenen Zellen des Organismus aus einer Zelle, der Eizelle eben, sich entwickelten, sich differenzierten, sagen Sie? Nein, das ist gar nicht trivial, zumindest nicht aus der Sicht der Wissenschaftshistorie. Denn lange, lange (4) tobte unter den Embryologen der Streit zwischen "Präformationisten" und "Epigenetikern". Letztere behielten Recht; sie behaupteten, dass genau das vor sich ginge, was Sie heute als fast triviales Schulwissen ansehen.
Die Präformationisten hatten aber auch eine charmante Hypothese. Der sich entwickelnde Organismus, so glaubten sie, differenziere sich nicht, er wachse nur. In den Spermien des Mannes oder in den Eizellen der Frau (man stritt sich, wo ...) sei ein winzig-winzig kleiner Homunkulus, ein Menschlein, das im Laufe der Embryonalentwicklung zur Kindsgröße heranwüchse. Gar nicht so dumm, denn das neugeborene Kind differenziert sich ja auch nicht wirklich, legt sich im Laufe der Kindheit und Jugend ja auch keine "neuen" Organe zu. Es ist alles schon da, und es muss nur wachsen. Genau das, dachten die Präformationisten, geschehe auch in utero, in der Gebärmutter.
Allerdings gab’s da ein pikantes Problem. Wenn der Embryo tatsächlich schon präformiert – also vorgebildet – in der Eizelle säße, dann müssten ja auch alle Kinder und Kindeskinder, alle diesem Embryo je folgenden Generationen schon vorgebildet in ebendiesem Embryo stecken. Oder rückwärts: Im Eierstock von Eva (wahlweise in Adams Gemächt) müssten alle Menschengenerationen sozusagen "eingeschachtelt", wie russische Puppen, schon drin gewesen sein. Nicht sehr plausibel.
Andere Plakoden gehen auf die Wanderschaft, die der Hirnanhangsdrüse zum Beispiel. Sie entsteht da, wo später die Stirn sein wird, und wandert via Nasen- und Rachenhöhle unter die Basis des Gehirns. Die Plakoden, die die elektrischen (und Strömungssinn-)Organe der Fische bilden, entstehen am Kopf und wandern dann, immer fleißig einzelne Sinnesorgane absondernd, den ganzen Rumpf hinab. Andere Plakoden (die des fünften Hirnnervs, der Haare, der Zähne und der Federn) bleiben an Ort und Stelle – aus ihnen wandern, bis die Plakode sich erschöpft hat, Zellen in die Tiefe hinab, um Zahnschmelz oder eben einen Hirnnerv oder ein Haar zu bilden. Und wenn man jetzt noch weiß (und man weiß es), dass die molekularen Mechanismen, die dazu führen, dass sich Plakoden bilden, von Plakode zu Plakode ganz unterschiedlich sind, dann sind wir mittendrin im Rachen des zweiten Ungeheuers, der Inkommensurabilität. Man kann die Plakoden nicht wirklich vergleichen, sie nicht mit einem Maß messen oder über einen Kamm scheren. Ja mehr noch: Die Ähnlichkeit, die Verdickung, der Fleck, der all diesen Plakoden den Namen gab – es könnte eine ganz zufällige, irrelevante Angelegenheit ohne Bedeutung sein, eine eigentlich (biologisch) unsinnige Kategorie (5).
Natürlich stürzen sich die Embryologen mit fast ebenso großer Begeisterung in die Schlünde des Inkommensurablen wie in die des "Tertium", denn was gäb’s Schöneres, als einen ganz neuen Mechanismus zu finden, eine bislang ungesehene Entdeckung zu machen, ein ganz und gar unvergleichliches Ergebnis vorweisen zu können? Allerdings: Wie kommen wir da nun wieder raus, ohne sofort wieder von dem anderen Monster verschluckt zu werden? Gar nicht, so fürcht’ ich, denn unser Denkapparat ist so gestrickt, dass wir, wenn wir uns aus einer Falle befreien, notwendig gleich in die nächste tappen. Ein "Tertium comparationis" findet sich immer. Ein Unterschied findet sich aber auch immer. Keine zwei Dinge sind gleich. Und wenn sie es doch wären – aber jetzt kommt das allerallerschrecklichste, grauenhafteste, riesengrößte Ungeheuer, so groß und mächtig, dass es unsere ersten beiden Monstren glatt verschluckt und uns gleich mit und, oh weh, schon sein Name ist das schiere Grauen: "Principium identitatis indiscernibilium" – also wenn zwei Dinge wirklich völlig gleich wären, sich in all ihren Attributen glichen, in Größe, Material, Farbe, Form und Lage (denken Sie sich "Lage" bitte als "GPS-Koordinate") – tja, dann wären das ja gar keine zwei Dinge, dann wäre es eines, und wir könnten gar nichts unterscheiden. Wir könnten bestenfalls sagen: "Dies Ding ist mit sich selbst identisch."
Können wir das?
Unglaublich ... da ist noch ein Ungeheuer! Es kommt aus dem Schwabenland und heißt Friedrich Hegel (6). Und er ist hirnerweichend. Wenn ich nämlich sage, so sagt er, dass ein Ding mit sich selbst identisch sei, wenn ich also sage "A = A", dann sage ich, so sagt er, eigentlich auch, dass A nicht gleich A sei, denn, bitt’ schön, wenn ich die beiden "As" in eines setze, als eines erkenne, gleichsetze, dann muss ich sie ja vorher als zweie erkannt haben, und dann können sie ja daher nicht eines sein. Hammerhart, nicht wahr?
Also, ganz ehrlich, wenn ich so in die Abgründe der Logik, in die Schlünde der Monstren schaue, dann wird’s mir ganz blümerant. Irgendwie ist alles immer schon gleich und dennoch verschieden, und es kommt mir wie ein mittleres Wunder vor, dass sich überhaupt eines aus etwas anderem entwickeln kann. Und weil ich im Herzen dem Denken und der Logik mehr zugeneigt bin als dem Augenschein, so kommt’s mir vor, als ob diese ganze Embryonalentwicklung, das Werden und Vergehen, die ganze Evolution mit ihrem stetigen Formenwandel, ja, das ganze ewig veränderliche Weltgeschehen eine Art von optischer Täuschung seien. In Wirklichkeit passiert gar nichts. Kann nichts passieren. Wir sind logisch festgenagelt.
Völlig bekloppt? Vielleicht. Aber Sie haben etwas über Plakoden gelernt, denn das, was ich darüber schrieb, stimmt. Garantiert!
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) "Das dritte des Vergleichs", mithin also dessen Basis. Was haben eine Butterblume und ein Postbus gemeinsam? Richtig: Beide sind gelb. "Gelb" ist das Tertium comparationis der beiden.
(2) "Die Nicht-mit-einem-Maß-Messbarkeit". Wie viel Benzin verbraucht eine Butterblume im Vergleich zu einem Postbus? Wie viele Blütenblätter hat ein Postbus im Vergleich zur Butterblume? Butterblumen und Postbusse sind inkommensurabel.
(3) Wirklich: immer. Das letzte "Tertium", das man immer findet, die ultimative Kategorie, die alles frisst, was ist, ist das "Sein". Alles "ist" irgendwie, selbst das, was nicht ist, ist: denn es ist ja gerade in meinem Bewusstsein, ich stelle es mir ja vor. Auch die Mathematik kennt dieses Kategorienmonstrum, es heißt dort: "die Menge aller Mengen". Das Ulkige ist, dass sich da sofort eine Frage stellt: Wenn es eine "Menge aller Mengen" gibt, dann müsste diese Menge ja ein Teil ihrer selbst sein, was allerdings hirnrissig und paradox wäre ... eieiei. Im Inneren des Monstrums scheint ein Schwarzes Loch der Logik zu hausen.
(4) Es ist allerdings auch lange her: Das war im 17. und 18. Jahrhundert.
(5) Die gibt es in Massen. Offenbarer biologischer Unsinn ist eine Kategorie wie "alle grünen Lebewesen", denn der Laubfrosch sitzt zwar auf dem grünen Pflanzenblatt, hat aber ansonsten wenig damit zu tun. Trotzdem halten sich Kategorien wie "Fische", "Wirbellose Tiere", "Würmer" mit zäher Hartnäckigkeit. "Wurm" bezeichnet eine Erscheinung, lang und ohne Beine. Gehört deshalb eine Schlange in dieselbe Kategorie wie ein Regenwurm? Sicher nicht.
(6) Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), geboren in Stuttgart, ab 1818 Professor der Philosophie in Berlin.
Das Alltagswissen sagt: nichts. Aber wenn das so wäre, dann wäre diese Glosse an dieser Stelle auch schon zu Ende. Also müssen sie doch etwas miteinander zu tun haben. Und was sie miteinander zu tun haben, das ist nicht nur ein Lehrstück in Anatomie, sondern auch in Philosophie – denn wir werden zwei garstige Ungeheuer ihr Haupt erheben sehen, nämlich das "Tertium comparationis" (siehe Fußnote 1) und die "Inkommensurabilität" (2). Und zwischen beiden müssen wir hindurch, wie Odysseus zwischen Szylla und Charybdis. Und die beiden Untiere sind sich gegenseitig nicht grün und dem, der zwischen ihnen einhersegelt, erst recht nicht. Also auf: Abenteuerurlaub in der Anatomie.
Die Reise beginnt ganz harmlos, mit der Vermutung eines Tippfehlers im Titel der Glosse. Plakoden? Das steht nicht im Fremdwörterlexikon ... wollt’ er nicht Pagoden schreiben? Fernöstliche Tempel?
Nein, wollt’ er nicht. Plakode kommt von griechisch plakos/plax, und das heißt: der Flecken. Also ein umschriebener Klecks von irgendwas. Und schon sind wir knapp vor dem gefräßigen Maul des ersten Ungeheuers, des Tertium comparationis. Denn all die oben genannten Strukturen gehen im Laufe der Embryonalentwicklung aus "Flecken" hervor, aus umschriebenen, verdickten Bereichen in der Haut des Embryos, die man eben Plakoden nennt. Und – da sehen Sie mal, wie gefräßig das Ungeheuer ist – schließlich entsteht auch eine Pagode auf einer Plakode (also einem umschriebenen Flecken Landes), und schon haben wir das Tertium comparationis eines chinesischen Tempels mit unserer Riechschleimhaut entdeckt.
Ob wir damit jetzt aber eine schlaue, eine irgendwie für irgendwas relevante Entdeckung gemacht haben, das ist ja nun eher fraglich. Aber das ist das Wesen des Monstrums: Es entdeckt immer irgendein drittes, in dem sich zwei Dinge gleichen, und seien sie noch so verschieden – nichts entkommt ihm, alles ist vergleichbar, es findet sich immer eine Kategorie, unter der man auch noch die disparatesten Dinge vereinigen kann (3). Und gemeinhin stürzen sich die Naturwissenschaftler – in unserem Falle: die Embryologen und vergleichenden Anatomen – mit Wonne und mit der Entschlossenheit der Lemminge in den Rachen des Ungeheuers. Das Ähnliche, ja, das Gleiche im Verschiedenen zu finden, das ist ja der Auftrag der vergleichenden Anatomie und der Embryologie.
Das sei trivial, sagen Sie? Schließlich müsse es ja so sein, weil – zumindest in der Embryologie – ja völlig klar sei, dass alle verschiedenen Organe, all die verschiedenen Zellen des Organismus aus einer Zelle, der Eizelle eben, sich entwickelten, sich differenzierten, sagen Sie? Nein, das ist gar nicht trivial, zumindest nicht aus der Sicht der Wissenschaftshistorie. Denn lange, lange (4) tobte unter den Embryologen der Streit zwischen "Präformationisten" und "Epigenetikern". Letztere behielten Recht; sie behaupteten, dass genau das vor sich ginge, was Sie heute als fast triviales Schulwissen ansehen.
Die Präformationisten hatten aber auch eine charmante Hypothese. Der sich entwickelnde Organismus, so glaubten sie, differenziere sich nicht, er wachse nur. In den Spermien des Mannes oder in den Eizellen der Frau (man stritt sich, wo ...) sei ein winzig-winzig kleiner Homunkulus, ein Menschlein, das im Laufe der Embryonalentwicklung zur Kindsgröße heranwüchse. Gar nicht so dumm, denn das neugeborene Kind differenziert sich ja auch nicht wirklich, legt sich im Laufe der Kindheit und Jugend ja auch keine "neuen" Organe zu. Es ist alles schon da, und es muss nur wachsen. Genau das, dachten die Präformationisten, geschehe auch in utero, in der Gebärmutter.
Allerdings gab’s da ein pikantes Problem. Wenn der Embryo tatsächlich schon präformiert – also vorgebildet – in der Eizelle säße, dann müssten ja auch alle Kinder und Kindeskinder, alle diesem Embryo je folgenden Generationen schon vorgebildet in ebendiesem Embryo stecken. Oder rückwärts: Im Eierstock von Eva (wahlweise in Adams Gemächt) müssten alle Menschengenerationen sozusagen "eingeschachtelt", wie russische Puppen, schon drin gewesen sein. Nicht sehr plausibel.
Zurück zu unseren Plakoden. All die im ersten Absatz genannten Strukturen gehen in der Tat aus solchen Verdickungen hervor. Das ist aber schon so ziemlich die einzige Gemeinsamkeit, die sie haben. Denn es gibt keine "Mutterplakode", aus der all die Einzelflecken hervorgingen, und die Plakoden benehmen sich alle ganz unterschiedlich. Manche, zum Beispiel die Plakode der Linse und die des inneren Ohres, sinken insgesamt in die Tiefe, formen Bläschen und lösen sich von der Oberfläche ab. Allerdings macht die Ohrplakode dann Nervenzellen, die Linsenplakode aber die durchsichtigen Linsenfasern, die mit Nervenzellen rein gar nichts zu tun haben.
Andere Plakoden gehen auf die Wanderschaft, die der Hirnanhangsdrüse zum Beispiel. Sie entsteht da, wo später die Stirn sein wird, und wandert via Nasen- und Rachenhöhle unter die Basis des Gehirns. Die Plakoden, die die elektrischen (und Strömungssinn-)Organe der Fische bilden, entstehen am Kopf und wandern dann, immer fleißig einzelne Sinnesorgane absondernd, den ganzen Rumpf hinab. Andere Plakoden (die des fünften Hirnnervs, der Haare, der Zähne und der Federn) bleiben an Ort und Stelle – aus ihnen wandern, bis die Plakode sich erschöpft hat, Zellen in die Tiefe hinab, um Zahnschmelz oder eben einen Hirnnerv oder ein Haar zu bilden. Und wenn man jetzt noch weiß (und man weiß es), dass die molekularen Mechanismen, die dazu führen, dass sich Plakoden bilden, von Plakode zu Plakode ganz unterschiedlich sind, dann sind wir mittendrin im Rachen des zweiten Ungeheuers, der Inkommensurabilität. Man kann die Plakoden nicht wirklich vergleichen, sie nicht mit einem Maß messen oder über einen Kamm scheren. Ja mehr noch: Die Ähnlichkeit, die Verdickung, der Fleck, der all diesen Plakoden den Namen gab – es könnte eine ganz zufällige, irrelevante Angelegenheit ohne Bedeutung sein, eine eigentlich (biologisch) unsinnige Kategorie (5).
Natürlich stürzen sich die Embryologen mit fast ebenso großer Begeisterung in die Schlünde des Inkommensurablen wie in die des "Tertium", denn was gäb’s Schöneres, als einen ganz neuen Mechanismus zu finden, eine bislang ungesehene Entdeckung zu machen, ein ganz und gar unvergleichliches Ergebnis vorweisen zu können? Allerdings: Wie kommen wir da nun wieder raus, ohne sofort wieder von dem anderen Monster verschluckt zu werden? Gar nicht, so fürcht’ ich, denn unser Denkapparat ist so gestrickt, dass wir, wenn wir uns aus einer Falle befreien, notwendig gleich in die nächste tappen. Ein "Tertium comparationis" findet sich immer. Ein Unterschied findet sich aber auch immer. Keine zwei Dinge sind gleich. Und wenn sie es doch wären – aber jetzt kommt das allerallerschrecklichste, grauenhafteste, riesengrößte Ungeheuer, so groß und mächtig, dass es unsere ersten beiden Monstren glatt verschluckt und uns gleich mit und, oh weh, schon sein Name ist das schiere Grauen: "Principium identitatis indiscernibilium" – also wenn zwei Dinge wirklich völlig gleich wären, sich in all ihren Attributen glichen, in Größe, Material, Farbe, Form und Lage (denken Sie sich "Lage" bitte als "GPS-Koordinate") – tja, dann wären das ja gar keine zwei Dinge, dann wäre es eines, und wir könnten gar nichts unterscheiden. Wir könnten bestenfalls sagen: "Dies Ding ist mit sich selbst identisch."
Können wir das?
Unglaublich ... da ist noch ein Ungeheuer! Es kommt aus dem Schwabenland und heißt Friedrich Hegel (6). Und er ist hirnerweichend. Wenn ich nämlich sage, so sagt er, dass ein Ding mit sich selbst identisch sei, wenn ich also sage "A = A", dann sage ich, so sagt er, eigentlich auch, dass A nicht gleich A sei, denn, bitt’ schön, wenn ich die beiden "As" in eines setze, als eines erkenne, gleichsetze, dann muss ich sie ja vorher als zweie erkannt haben, und dann können sie ja daher nicht eines sein. Hammerhart, nicht wahr?
Also, ganz ehrlich, wenn ich so in die Abgründe der Logik, in die Schlünde der Monstren schaue, dann wird’s mir ganz blümerant. Irgendwie ist alles immer schon gleich und dennoch verschieden, und es kommt mir wie ein mittleres Wunder vor, dass sich überhaupt eines aus etwas anderem entwickeln kann. Und weil ich im Herzen dem Denken und der Logik mehr zugeneigt bin als dem Augenschein, so kommt’s mir vor, als ob diese ganze Embryonalentwicklung, das Werden und Vergehen, die ganze Evolution mit ihrem stetigen Formenwandel, ja, das ganze ewig veränderliche Weltgeschehen eine Art von optischer Täuschung seien. In Wirklichkeit passiert gar nichts. Kann nichts passieren. Wir sind logisch festgenagelt.
Völlig bekloppt? Vielleicht. Aber Sie haben etwas über Plakoden gelernt, denn das, was ich darüber schrieb, stimmt. Garantiert!
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) "Das dritte des Vergleichs", mithin also dessen Basis. Was haben eine Butterblume und ein Postbus gemeinsam? Richtig: Beide sind gelb. "Gelb" ist das Tertium comparationis der beiden.
(2) "Die Nicht-mit-einem-Maß-Messbarkeit". Wie viel Benzin verbraucht eine Butterblume im Vergleich zu einem Postbus? Wie viele Blütenblätter hat ein Postbus im Vergleich zur Butterblume? Butterblumen und Postbusse sind inkommensurabel.
(3) Wirklich: immer. Das letzte "Tertium", das man immer findet, die ultimative Kategorie, die alles frisst, was ist, ist das "Sein". Alles "ist" irgendwie, selbst das, was nicht ist, ist: denn es ist ja gerade in meinem Bewusstsein, ich stelle es mir ja vor. Auch die Mathematik kennt dieses Kategorienmonstrum, es heißt dort: "die Menge aller Mengen". Das Ulkige ist, dass sich da sofort eine Frage stellt: Wenn es eine "Menge aller Mengen" gibt, dann müsste diese Menge ja ein Teil ihrer selbst sein, was allerdings hirnrissig und paradox wäre ... eieiei. Im Inneren des Monstrums scheint ein Schwarzes Loch der Logik zu hausen.
(4) Es ist allerdings auch lange her: Das war im 17. und 18. Jahrhundert.
(5) Die gibt es in Massen. Offenbarer biologischer Unsinn ist eine Kategorie wie "alle grünen Lebewesen", denn der Laubfrosch sitzt zwar auf dem grünen Pflanzenblatt, hat aber ansonsten wenig damit zu tun. Trotzdem halten sich Kategorien wie "Fische", "Wirbellose Tiere", "Würmer" mit zäher Hartnäckigkeit. "Wurm" bezeichnet eine Erscheinung, lang und ohne Beine. Gehört deshalb eine Schlange in dieselbe Kategorie wie ein Regenwurm? Sicher nicht.
(6) Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), geboren in Stuttgart, ab 1818 Professor der Philosophie in Berlin.
Schreiben Sie uns!
2 Beiträge anzeigen