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Grams' Sprechstunde: Wann schadet zum Arzt gehen eigentlich?

Wie hab ich grad noch gemeint: Unbegründete Angst sollte niemanden vom Arztbesuch abhalten? Stimmt noch immer. Aber gibt es nicht auch begründete Angst?
Ein Mann im Kernspintomograf.

Neulich schrieb ich eine Kolumne gegen die Angst, dass bei gesundheitlichen Beschwerden wirklich »etwas Schlimmes« gefunden werden könnte, wenn man damit zum Arzt oder zur Ärztin ginge. Gleich wurden Kommentare laut: »Frau Grams, nun wollen Sie uns wohl alle zum Arzt schicken und Überdiagnostik betreiben?« Oder: »Kennen Sie etwa nicht das Problem: drei Ärzte, fünf Meinungen? Und wer soll das bezahlen?!« Oder: »Oft wird beim Arzt ja etwas gefunden, was gar nicht behandlungsbedürftig ist – und das soll dann trotzdem behandelt werden?« Oder: »Jeder Gang zum Arzt kann mit einer Fehlbehandlung enden – wollen Sie das?«

Nichts läge mir ferner. So wichtig ich es finde, eine schwere Krankheit so früh wie möglich zu diagnostizieren (um auch möglichst früh und gut behandeln zu können), so sehr weiß ich um Probleme der modernen Diagnostik und Behandlung. Denn es stimmt ja:

Es kann sein, dass etwas gesehen wird, wo nichts ist. Man stößt auf Laborwerte, die nicht der Norm entsprechen, und behandelt sie aus kosmetischen Gründen, »damit das Kreuzchen auf dem Laborzettel wieder schön in der Mitte steht«, so ein Kollege im O-Ton. Oder auf im Röntgenbild verschoben erscheinende Wirbel, die nie jemandem weh getan haben und weh tun werden. Oder auf statistische Abweichungen – bei einer strengen Kontrolle der Normvarianten von Organen, die gar keine Beschwerden machen.

Es kann auch sein, dass etwas Kleines gefunden wird und das »Mücke-zu-Elefant«-Dilemma eintritt. Es folgt: die große Abklärung, die Sicherheitscomputertomografie – und zur ganz großen Sicherheit auch noch die Kernspintomografie hinterher. Beim grippalen und viralen Infekt das Sicherheitsantibiotikum. Der fünfte Ultraschallcheck in der Schwangerschaft, der vielleicht am Ende mehr Unsicherheit schafft, als er nehmen soll.

Und es kann sein, dass falsch oder nachlässig behandelt wird, nachdem wirklich etwas gefunden wurde. Mangelnde Hygiene, zu wenig Zeit und Überblick bei den Behandelnden, Kostendruck, ganz banale oder aber katastrophale Dinge – wie die Verwechslung des zu operierenden Beins – können zu vermeidbaren Schäden, unnötigen Mehrkosten und einem Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem führen.

Es ist eine komplexe Situation mit vielen verschiedenen Variablen. Die moderne Medizin bietet viele verschiedene diagnostische Möglichkeiten und Tools, die nicht immer nur aus medizinischen Gründen genutzt werden wollen. Manchmal muss das neue Ultraschallgerät in der Praxis auch einfach nur abbezahlt werden. Manchmal mag auch die Angst, unrealistische Erwartungen von Patienten nicht erfüllen zu können, dazu führen, dass Ärzte sich mehr und mehr absichern, indem sie weitere Untersuchungen einholen, die eigentlich gar nicht nötig wären. Das verursacht zum einen höhere Kosten, die wir alle tragen müssen, zum anderen kostet es Zeit. Zwar muss der eine Arzt nur eine Überweisung ausstellen, beim Facharzt werden dann aber die Termine knapp und die Wartezeiten länger. Wehe dem Patienten, der dann wirklich etwas hat und lange auf seinen Termin warten muss. Auch die Zeit, bis eine wirklich sinnvolle Behandlung einsetzen kann, wird länger. Und – nicht ganz unwichtig – je mehr Diagnostik betrieben wurde, umso schwerer ist es für Arzt und Patienten dann zu akzeptieren, dass die beste Behandlung eventuell in vertrauensvollem Zuwarten besteht.

Verlegenheits- oder Zufriedenheitstherapien sind bestimmt keine Seltenheit. Insofern gibt es viele Probleme – zu viele und unnötige Diagnostik und »overdefensive medicine«, die mehr kostet als liefert. Nicht immer wird richtig entschieden, und natürlich passieren Fehler – leider oftmals auch vermeidbare. Zuletzt wurde das »Weißbuch Patientensicherheit« vorgestellt: Ihm ist zu entnehmen, dass unerwünschte Ereignisse und Fehlbehandlungen bei zwei Millionen der rund 20 Millionen im Krankenhaus behandelten Patienten auftreten. Vermeidbar seien davon bis zu 800 000 dieser Ereignisse, sagen die ermittelnden Experten. Es gibt also noch viel zu tun. Nur: Ein Problem ist gleichzeitig eben auch die zu überwindende Scheu, bei bedrohlichen oder ungewöhnlichen oder anhaltenden Beschwerden zum Arzt zu gehen und der Medizin trotzdem zu vertrauen – auf dass eine Krankheit schnellst- und bestmöglich behandelt werden kann. Eine einseitige Perspektive wird nichts verbessern, manchmal aber muss auch ein einzelnes Problem in den Fokus gerückt werden dürfen. Das bedeutet aber dann nicht – weder hier in der Kolumne noch in der gesamten Medizin –, dass der Rest vergessen wird oder nicht mehr wichtig ist.

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