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Warkus' Welt: Am Ende aller Argumente

Manchmal braucht es keine schlüssigen Argumente, um moralisch verwerfliche Ideen zu rechtfertigen. Ist ein Phänomen bedeutend genug, reichen Ausflüchte. Das zeigt das Beispiel der Sklaverei, wie unser Kolumnist erklärt.
Ketten am Boden einer alten Zelle aus Stein
Menschen als Sklaven zu halten, war lange Zeit traurige Praxis.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Kein Mensch gehört einem anderen Menschen, so wie jemandem ein Auto, eine Kuh oder ein Grundstück gehört. Das ist, so möchte ich vermuten, überwältigender Konsens, auf jeden Fall ist es geltendes Recht. Historisch gesehen ist diese Ansicht allerdings ein junges Phänomen: So endete etwa die legale Sklaverei in den USA nach einem langen und konfliktreichen Prozess, der letztlich zu einem blutigen Bürgerkrieg führte, erst 1865. In Brasilien wurde sie sogar erst 1888 abgeschafft. Das vermutlich letzte lebende Kind eines nordamerikanischen Sklaven, Dan Smith, ist erst im Oktober 2022 in Washington verstorben. Die weniger drastische, aber bereits im 18. Jahrhundert durchaus mit Sklaverei gleichgesetzte Institution der Leibeigenschaft endete in Deutschland ebenfalls erst im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Dies kann verwundern, waren doch vor 1800 schon Ideen populär geworden, die der Praxis widersprachen, dass Menschen anderen gehören und von ihnen legal völlig willkürlich behandelt werden dürfen. Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und später der »Bill of Rights« der US-Verfassung (im Jahr 1776 beziehungsweise 1791) und der französischen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1789 erlangten Sätze wie »Menschen (oder: Männer) werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es« offiziellen Charakter. Diese Vorstellungen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Wirkungsgeschichte hinter sich, waren also nicht neu. Wie man es auch dreht und wendet: In weiten Teilen der Welt existierte die Vorstellung von Freiheit und Gleichheit aller Menschen also über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, hinweg parallel zu legaler Sklaverei und Leibeigenschaft.

Geht man bis ins 17. Jahrhundert zurück, findet man diesen Widerspruch geradezu persönlich in dem englischen Philosophen John Locke (1632–1704) verkörpert. Er entwickelt zum Thema Sklaverei eine Lehrmeinung, der zufolge es nur in einem einzigen, sehr eng umgrenzten Fall gerechtfertigt ist, dass Menschen andere versklaven. Dieser Fall tritt dann ein, wenn die Verteidiger in einem gerechten Krieg einen der Aggressoren gefangen nehmen. Der Angreifer dürfte laut Locke in diesem Fall legitim getötet werden; verzichten die Verteidiger jedoch darauf, wird der Verschonte damit zu ihrem Sklaven.

Locke entwickelte diese Sklavereitheorie wahrscheinlich zur Zuspitzung eines Arguments gegen absolutistische Fürstenherrschaft. Ihm ging es darum, die absolute Macht über die Untertanen, die zeitgenössische Theoretiker europäischen Königen zumaßen, als illegitimes Versklavungsverhältnis darzustellen. Das Schicksal der aus Afrika deportierten Arbeitssklaven in den amerikanischen Kolonien ist mit Lockes Theorie allerdings nur schwierig zu rechtfertigen, weil sich diese Afrikaner in seinen eigenen Begriffen kaum als unterlegene Vertreter der Partei des Unrechts in einem gerechtfertigten Krieg beschreiben lassen.

Das alles hinderte Locke aber nicht daran, als Regierungsbediensteter eng mit der Verwaltung des englischen Kolonialreichs zu tun zu haben. Zudem war er zumindest in gewissem Maße am Entwurf der feudalen Verfassung der damaligen Kolonie Carolina 1669 beteiligt, in der unmissverständlich festgehalten ist, dass deren freie Bürger absolute Macht über Leben und Tod ihrer schwarzen Sklaven haben sollten.

Letztlich lässt sich das gleichzeitige Bestehen von Sklaverei und universalistischen philosophischen Ideen natürlich durch Rassismus erklären. Dabei soll dieses Wort nicht den Eindruck entstehen lassen, im 18. und frühen 19. Jahrhundert habe es bereits die pseudo-biowissenschaftlichen »Rassentheorien« gegeben, an denen sich moderne Rassisten in der Regel orientieren. Es ist jedoch recht klar, dass es gängig war, schwarze Menschen als minderwertig zu betrachten und gegen ihre »Vermischung« mit Weißen zu plädieren (dies tat zum Beispiel der amerikanische Gründervater Thomas Jefferson, der sonst langfristig die Sklaverei abgeschafft sehen wollte).

Damit Menschen sich mit einer zutiefst unmoralischen Institution nicht nur abfinden, sondern sogar energisch für ihr Fortbestehen argumentieren, braucht es nicht unbedingt schlüssige Argumente

Liest man Texte zum Thema – zum Beispiel aus den USA vor dem Bürgerkrieg, wo es jahrzehntelang kaum ein wichtigeres politisches Thema gab –, kann man jedoch den Eindruck bekommen, dass sich viele Befürworter der Sklaverei gar nicht groß damit abgaben, eine grundsätzliche moralische Begründung zu liefern. Sie rechtfertigten vor allem die Auswirkungen der Sklaverei als bereits bestehende Institution. So war es ein geradezu klassisches Argument, den schwarzen Sklaven Amerikas ginge es besser als in Elend lebenden (und rechtlich freien) städtischen Proletariern.

Die Behauptung, den Sklaven sei es vergleichsweise gut gegangen und sie hätten hier und da sogar von ihrem Status profitiert, ist bis heute unter amerikanischen Rechten populär. Zuletzt machte sogar der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, Anmerkungen in diese Richtung. Die epochenübergreifende Lektion scheint mir recht klar: Damit Menschen sich mit einer zutiefst unmoralischen Institution nicht nur abfinden, sondern sogar energisch für ihr Fortbestehen argumentieren, braucht es gar nicht unbedingt schlüssige Argumente dafür. Es reicht, wenn das Phänomen groß und bedeutend ist und beispielsweise ökonomisch viel davon abhängt. Dann finden sich auch Ausflüchte zu seiner Rechtfertigung, wie schwach und erbärmlich sie auch klingen mögen.

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