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Warkus' Welt: Der fair verteilte Kuchen

Gerechtigkeit ist kompliziert – selbst dann, wenn genug Ressourcen für alle vorhanden sind. Das lässt sich wunderbar an einer Kuchentradition aus Frankreich zeigen. Eine Kolumne.
Kuchen, aufgeteilt in gleiche Stücke

Im französischen Sprachraum begegnen einem hier und da große, verzierte Teller mit rätselhaft verteilten Ziffern am Rand. Sie sind zum Beispiel als Mitbringsel aus dem Elsass beliebt. Die beeindruckendsten Exemplare sehen ein bisschen so aus, als hätte jemand eine Servierplatte mit einem Winkelmesser gekreuzt.

Und genau so ist es auch. Wenn man einen Kuchen auf eine bestimmte Zahl von Gästen aufteilen will, schneidet man einfach jeweils von den Punkten, an denen diese Zahl steht, zur Mitte und erhält genau gleich große Kuchenstücke. Simpel und genial. Der Teller passt nicht nur gut zu Frankreich, einem historisch von Mathematik und Geometrie geradezu besessenen Land. Er entschärft auch das Problem des Futterneids unter Kindern.

Der »Gleiche-Teile-Teller« (assiette à parts égales) ist die nicht bloß symbolische, sondern ganz reale Verkörperung von Gerechtigkeit, wie Kinder sie üblicherweise verstehen: Gerecht ist es, wenn es mehrere Menschen gibt und eine definierte Menge einer homogenen Ressource gleichmäßig auf sie aufgeteilt wird. Wären sich nun alle darüber einig, dass dies wirklich der alleinige und ausschließliche Begriff von Gerechtigkeit ist, wäre diese Kolumne am Ende.

Plat diviseur | Dieser spezielle Teller erlaubt es, Kuchen in exakt gleich große Stücke aufzuteilen.

Es geht aber noch um mehr. Warum ist das Teilen eines Kuchens in exakt gleiche Teile gerade in Frankreich so wichtig? Weil sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung am 6. Januar (Epiphanias beziehungsweise Dreikönigstag) mit der Familie an einen Tisch setzt und sich einen Kuchen teilt, in dem irgendwo eine Überraschung eingebacken ist. Früher war das oft eine getrocknete Ackerbohne, heute ist es in der Regel eine winzige Sammelfigur aus Porzellan. Wer das Figürchen in seinem Kuchenstück findet, wird zum König gekrönt, darf eine Pappkrone tragen und wird auf die eine oder andere Weise geehrt.

Die Königswahl ist auf eine andere Art gerecht als die Verteilung des Gebäcks an sich: Es erhält nicht jeder Gast die gleiche Menge einer Ressource, sondern nur genau eine Person kann das Figürchen und die Krone haben. Aber der Prozess, der dahin führt, ist transparent und fair, und alle Gäste haben vollkommen gleiche Chancen, König zu werden.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten von Gerechtigkeit, die auch Verteilungsgerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit genannt werden, ist untrennbar verknüpft mit dem Namen des amerikanischen politischen Philosophen John Rawls (1921–2002). Spätestens um die Jahrtausendwende herum wurde dieser Unterschied ebenso in der deutschen politisch-medialen Öffentlichkeit populär, weil damals der Gedanke weit verbreitet war, die Politik früherer Jahre habe zu stark auf Verteilungsgerechtigkeit und zu wenig auf Verfahrensgerechtigkeit abgehoben.

Ist Chancengleichheit immer fair?

Die Eigenart der Kuchenverteilung ist es, dass die beiden Gerechtigkeitsaspekte hier vollständig im Einklang stehen, weil der Anteil an der Backmasse exakt gleich der Chance auf die Königswahl ist. Daher ist die technische Lösung mit dem Teller so einfach. Man könnte sich aber natürlich vorstellen, dass beides voneinander getrennt wird – wer König wird, könnte man beispielsweise auch auswürfeln.

Das Problem mit abstrakten Gerechtigkeitsbegriffen gleich welcher Art ist, dass sie bereits bei wenig komplexen Alltagsproblemen an ihre Grenzen geraten. Wenn wir die unterschiedlichen Interessen der Gäste und die Konsequenzen der Entscheidung für den Rest des Abends mit einbeziehen, müssen wir feststellen: Die völlige Chancengleichheit kann tendenziell problematische Ergebnisse mit sich bringen. Die Älteren am Tisch sind nicht daran interessiert, eine Pappkrone zu tragen und sich hofieren zu lassen, wohl aber daran, in Ruhe zu feiern, ohne dass ihnen frustrierte Kinder auf die Nerven gehen.

Daher schummeln laut Erhebungen mehr als zwei Drittel der Franzosen bei der Königswahl und schanzen das Figürchen den jüngsten Kindern zu. Das scheint in keiner Hinsicht gerecht, weil das Verfahren intransparent ist und, über die Jahre gerechnet, die Ressource der Figürchen auch nicht gleichmäßig verteilt wird. Aber es ist offensichtlich ein wünschenswertes Ergebnis, mit dem alle zufrieden sind. Und insofern doch wieder vollkommen fair. Gerechtigkeit ist, wie man sieht, kompliziert – sogar, wenn immer genug Kuchen für alle da ist.

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