Warkus’ Welt: Der Skandal der Philosophie?
Einer der gängigsten Vorwürfe an die Philosophie ist, dass sie auf der Stelle trete, um sich selbst kreise, sich immerzu wiederhole. Naturwissenschaften und technische Fächer machen rasend schnell Fortschritte: Von der Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 1831 bis zur Publikation der allgemeinen Relativitätstheorie 1915 oder von der Erfindung der Dampfturbine um 1884 bis zur Mondlandung 1969 verging nur jeweils ein gutes Menschenalter. Was hat die Philosophie dagegen vorzuweisen? Es lässt sich kaum bestreiten, dass bestimmte Kernprobleme, mit denen sie sich beschäftigt, seit Jahrtausenden dieselben sind und man nicht feststellen kann, dass sie gelöst und ad acta gelegt werden wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Während in der Humanbiologie zum Beispiel niemand mehr anzweifelt, dass der Mensch einen Blutkreislauf hat oder Infektionskrankheiten durch Bakterien, Viren und andere mit bloßem Auge nicht sichtbare Pathogene hervorgerufen werden, setzt sich die Philosophie bis heute etwa damit auseinander, was existiert, was Gut und Böse unterscheidet und ob der Mensch einen freien Willen hat. Zeigt sich hier also nicht ein skandalöses Scheitern?
Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf diesen Vorwurf zu reagieren, von denen ich einige nennen möchte – die Liste ist allerdings keineswegs abschließend. Am einfachsten ist es natürlich, die Philosophie zu verwerfen und insgesamt für Zeitverschwendung zu erklären. Die zweiteinfachste, überraschend beliebte Lösung besteht darin, zumindest die bisherige Philosophie in dieser Weise zu verurteilen und sich vorzunehmen, ab sofort alles anders zu machen. Die Philosophiegeschichte ist voll von Projekten, mit denen eine vermeintlich erfolglose Philosophie endlich radikal neu auf solide, am besten »wissenschaftliche« Füße gestellt werden sollte. Auch philosophische Amateurprojekte haben häufig diesen Charakter. Der Wunsch, die Philosophie durch etwas ganz Neues, »Funktionsfähiges« zu ersetzen, ist offensichtlich stark und weit verbreitet.
Die dritte Option ist es, abzustreiten, dass Philosophie überhaupt eine Wissenschaft sei oder sein solle. Dann hätte sie sich also gar nicht an Erkenntnisfortschritten irgendeiner Art zu messen. Vielleicht ist sie ja eher so etwas wie eine Lebenspraxis oder eine Religionsalternative? Die damit verbundene Diskussion birgt ihre eigene Schwierigkeit, weil die Philosophie heutzutage durchweg als wissenschaftsförmige akademische Disziplin organisiert ist und sich die Frage stellt, was sich daran dann ändern müsste.
Ein vierter Ansatz: Die Philosophie macht durchaus Fortschritte, die aber nicht den Charakter von Lösungen für ihre ewigen Probleme haben, weswegen sie von außen betrachtet schwer zu erkennen sind. Kandidaten für solche Fortschritte sind beispielsweise die Feststellung, dass Existenz keine Eigenschaft eines Gegenstands ist wie jede andere; dass man anderen Menschen nicht in die Köpfe schauen kann, sondern alles Nachdenken über Gedanken immer eng mit dem Reden über Sprache zu tun hat; dass man die Existenz Gottes nicht mit rein logischen Mitteln beweisen kann; und dass das Nachdenken über Gut und Böse immer mit dem Unterschied konfrontiert ist, ob es um das Bewerten einzelner Handlungen oder von Handlungsregeln geht. Hinter diese Fortschritte gibt es kein Zurück.
Damit in Zusammenhang steht eine fünfte Möglichkeit, mit dem »Skandal der Philosophie« umzugehen – eine elegante und nach meinem persönlichen Empfinden durchaus plausible. Dieser Ansatz behauptet, dass, gerade weil sich die Welt und die Menschen fortwährend ändern und damit auch die Stile des Denkens, Sprechens und Schreibens innerhalb und außerhalb der Philosophie, bestimmte Probleme immer neu diskutiert, bestimmte Begriffe immer wieder neu hergeleitet werden müssen. Der britische Philosoph Peter F. Strawson hat dies in der berühmten Einleitung seines Buchs »Einzelding und logisches Subjekt« aus dem Jahr 1959 formuliert, allerdings bezogen auf Metaphysik und nicht das Fach als Ganzes: »Denn obgleich der zentrale Gegenstand der deskriptiven Metaphysik derselbe bleibt: Die kritische und analytische Sprache der Philosophie ändert sich fortwährend. Beständige Verhältnisse werden in einer unbeständigen Sprache beschrieben, die einerseits das geistige Klima der Zeit, andererseits den persönlichen Denkstil des individuellen Philosophen widerspiegelt.«
Wenn sich dies verallgemeinern lässt, dann besteht die Aufgabe der Philosophie ganz oder zumindest zu großen Teilen darin, als ein Kanal zu fungieren, durch den bestimmte unabänderliche Verhältnisse immer wieder neu beschrieben werden, um sie immer wieder anders tickenden Zeitaltern von Neuem verständlich zu machen. Probleme als gelöst zu archivieren wäre dann gar nicht möglich.
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