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Warkus' Welt: Die Krux mit der Authentizität

Nicht nur in Castingshows bekommt man für seine Authentizität Komplimente. Aber was macht einen Menschen eigentlich »echt«? Die Antwort auf diese Frage ist komplizierter, als Ratgeber gerne vermitteln. Eine Kolumne.
Rückenansicht eines Mannes in einem Overall, der eine weiße Wand mit einem weißen Farbroller streicht. Daneben steht eine Leiter.
Was ist schon authentisch?

Wenn Sie vergangenes Wochenende »Deutschland sucht den Superstar« – oder überhaupt jemals eine Ausgabe irgendeiner Castingshow – gesehen haben, dann wird Ihnen vielleicht eines aufgefallen sein: Bei der Bewertung der Sängerinnen und Sänger geht es, sofern nicht direkt vom Handwerklichen oder vom Aussehen die Rede ist, eigentlich ständig darum, wie »echt« oder »authentisch« jemand ist. Authentizität, so könnte man meinen, ist ein wichtiger Wert in unserer Gesellschaft. Entsprechend kann man mittlerweile auch problemlos jede Menge Ratschläge und Literatur dazu finden, wie man authentisch wirkt.

Bei vielen Alltagsgegenständen ist es kein Problem, ihre Echtheit zu beurteilen. Ich trage beispielsweise einen Ehering aus vergoldeter Keramik. Er sieht vielleicht aus wie ein Goldring, er ist aber kein Goldring. Das würde man merken, wenn man mit dem Hammer darauf schlägt, dann würde er sich nämlich nicht plastisch verformen, sondern zersplittern. Es gibt also ein Prüfverfahren, mit dem man untersuchen kann, ob die Beschreibung des Gegenstands und seine praktischen Eigenschaften miteinander übereinstimmen.

Was heißt dann »echt« bei einem Menschen? Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum. Selbst eineiige Zwillinge oder (hypothetisch) geklonte Menschen haben Eigenschaften, die sie unterscheiden, und es besteht kein Zweifel daran, dass jeder Mensch über sein ganzes Leben hinweg mit sich selbst identisch bleibt. Solange man kein Hochstapler ist, der vorgibt, jemand anderes zu sein, ist man insofern also immer »echt«. Bei Castingshows ist das allerdings nicht gemeint. Bei ihnen geht es nicht um die Frage, ob ein Kandidat vielleicht jemandes Doppelgänger ist.

Nun ist aber auch jeder Alltagsgegenstand mit sich identisch, solange er existiert. Mein Ehering ist immer mein Ehering. Die Frage, ob er echt ist, bezieht sich in der Regel nicht darauf, ob er wirklich mein Ehering ist – das könnte höchstens nach einer Verwechslung relevant sein –, sondern darauf, ob er wirklich aus Gold ist. Man könnte also sagen: Bei Authentizität geht es darum, ob ein Gegenstand X mit einer Beschreibung übereinstimmt, die über die bloße Bezeichnung X hinausgeht. Ich bin immer und zweifelsohne der echte Matthias Warkus, doch über die Frage, ob ich »ein echter Pfälzer bin«, kann man sich schon streiten: Ich bin zwar in der Pfalz geboren, spreche aber zum Beispiel nicht den typischen Dialekt.

Das Problem, was ohne weitere Präzisierung damit gemeint ist, ein Mensch sei »echt«, läuft damit auf die Frage hinaus, ob es eine bestimmte Beschreibungshinsicht gibt, bezüglich derer alle Menschen jeweils mit sich selbst übereinstimmen können und sollen. Und zwar in einer Hinsicht, bei der dies nicht selbstverständlich ist (wie bei einem Fingerabdruck oder der Blutgruppe etwa) und die irgendwie kontrollierbar ist. Sonst wäre es unfair, Menschen für Authentizität Komplimente zu machen. Das ist offensichtlich schwierig. Öffnet man einen Online-Selbsttest mit dem Titel »Wie authentisch wirkst du?«, lautet beispielsweise eine der ersten Fragen: »Gibst du dich genau so, wie du bist?« Trägt das irgendwie zur Klärung bei?

Sind Popstars nicht genau das Gegenteil von »echt«?

Man könnte meinen, dass Authentizität bei Menschen bedeutet, dass sie ehrlich sind und ihre Gefühle offen äußern. Dass sie also zum Beispiel keine Krokodilstränen vergießen und ein Satz wie »Ich freue mich, heute Abend hier zu sein« nicht gelogen ist. Das Problem bei unserer Castingshow-Situation ist allerdings: Popsänger und Popsängerinnen haben häufig gerade die Aufgabe, Gefühle zu transportieren, die sie nicht empfinden. Selbst wenn der Mensch, der auf der Bühne steht, frisch verliebt ist und gerade ein Pony geschenkt bekommen hat: Wenn er ein todtrauriges Lied singt, soll er uns auch mimisch und gestisch zu Tränen rühren und nicht fröhlich grinsen.

Genau das scheint es aber zu sein, was mit dem Lob als »echt« bei Castingshows stark korreliert. Ist also eine Sängerin genau dann besonders »echt«, wenn sie besonders glaubwürdig Gefühlsäußerungen simulieren kann, die ihrem eigenen Befinden gar nicht entsprechen? Ist das nicht genau das Gegenteil des Gesuchten?

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Der Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905–1980), wahrscheinlich der Philosoph, der am stärksten mit dem Begriff der Authentizität in Verbindung gebracht wird, hat an verschiedenen Stellen seines Werks ausgedrückt, dass Authentizität für ihn gerade darin besteht, ein klares Bewusstsein von der Situation, in der man sich befindet, zu haben. Dies schließt für ihn ein, zu erkennen, dass bestimmte Widersprüche des menschlichen Daseins sich nie ganz auflösen lassen (sehr verkürzt gesagt). Man könnte formulieren: Die Beschreibung, der man genügen muss, um authentisch zu sein, ist dann gerade eine Beschreibung als etwas, das keiner Beschreibung je vollständig genügt. Es gibt per definitionem keinen bestimmten Satz von Eigenschaften, den man haben kann, um authentisch zu sein.

Das Gerede von Echtheit und Authentizität bei Castingshows erweckt schon dadurch, dass es so inflationär und unbestimmt ist, einen in sich falschen, um nicht zu sagen verlogenen Eindruck. Vielleicht ist es wirklich machbar, zumindest von Situation zu Situation zu beurteilen, wie authentisch ein Mensch ist. Möglicherweise geht das aber höchstens bei einem selbst, und sogar dann bleibt es schwierig.

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