Warkus' Welt: Die »richtigen« Worte finden
Wenn nun aber jemand, der die Venus noch nie am Abendhimmel gesehen hat, diese dort zum ersten Mal erblickt und sagt: »Heute habe ich zum ersten Mal den Abendstern gesehen«, birgt diese Aussage einen Informationsgehalt. Hätte die Person gesagt: »Heute habe ich zum ersten Mal den Morgenstern gesehen«, wüssten wir etwas anderes Neues über sie.
Aber die Wörter »Abendstern« und »Morgenstern« bedeuten doch dasselbe, nämlich der Planet Venus! Oder etwa nicht?
In dieser Kolumne war schon einmal die Rede von dem im Verhältnis zu seiner landläufigen Unbekanntheit ungeheuer wichtigen Philosophen und Mathematiker Gottlob Frege (1848-1925). Dieser hat sich 1892 in einem Aufsatz mit dem Titel »Über Sinn und Bedeutung« mit genau diesem und ähnlichen Problemen beschäftigt und ist zu einer ebenso einfachen wie einflussreichen Lösung gekommen: Zeichen (wie Wörter, sprachliche Ausdrücke oder mathematische Symbole) beziehen sich auf das, was sie bedeuten (ihre Bedeutung), immer auf eine bestimmte Art. Diese Art des Bezugnehmens (Frege nennt dies Sinn) aber kann bei unterschiedlichen Zeichen verschieden sein.
Der Ausdruck »Matthias Warkus« hat eine Bedeutung, der Ausdruck »Harry Potter« hingegen nicht. Einen Sinn haben natürlich beide
So ist die Bedeutung von »Abendstern« und »Morgenstern« dieselbe, nämlich der Planet Venus. Der Sinn ist aber unterschiedlich: Der Sinn von »Abendstern« ist »der erste Stern, der abends am Himmel steht« und der Sinn von »Morgenstern« ist »der letzte Stern, der morgens am Himmel steht«.
Das Praktische an dieser Lösung ist, dass damit der (meiner Ansicht nach fragwürdigen, aber äußerst populären) Ansicht Genüge getan wird, dass sprachliche Ausdrücke Gegenstände bezeichnen – oder eben nichts, wenn sie keine realen Gegenstände bezeichnen. Der Ausdruck »Matthias Warkus« hat demnach eine Bedeutung, der Ausdruck »Harry Potter« hingegen nicht. Einen Sinn haben natürlich beide – der Sinn von »Harry Potter« lässt sich zum Beispiel mit »der berühmteste Hogwarts-Schüler aus dem Einschulungsjahrgang 1991« beschreiben, aber die Bedeutung bleibt leer, denn Harry Potter existiert nun einmal nicht.
Lassen Sie uns ein wenig über Frege hinausgehen. Haben Sie in letzter Zeit Plakate der DKMS (ehemals: Deutsche Knochenmarkspenderdatei) zum Thema Knochenmarkspende gesehen? (Falls Sie noch nicht typisiert sind, lassen Sie es machen, es ist wirklich sehr simpel.) Auf den Plakaten steht heutzutage der Slogan »Wir besiegen Blutkrebs«. Als ich mich vor fast zehn Jahren habe typisieren lassen, war von Blutkrebs nicht die Rede, sondern von Leukämie. Nun ist es so, dass »Blutkrebs« und »Leukämie« Synonyme sind. Beide Wörter haben klar dieselbe Bedeutung.
Warum nun diese Änderung in der Öffentlichkeitsarbeit? Warum »Wir besiegen Blutkrebs« und nicht »Wir besiegen Leukämie«?
Wenn wir Sprache nutzen, dann nicht nur, um Gegenstände oder Phänomene zu bezeichnen, sondern auch, um mit der Art der Zeichen, die wir verwenden, Wirkungen zu erzielen
Die Wörter haben, wenn man sie rein etymologisch betrachtet, einen unterschiedlichen Sinn: »Leukämie« bedeutet »Weißblütigkeit«, »Blutkrebs« bedeutet, nun ja, Krebs des Blutes. Im einen Sinn schwingt mit, dass es sich bei Leukämie um eine Krebserkrankung handelt, im anderen nicht. Da nun »Krebserkrankung« eine sehr weit gefasste Kategorie mit fragwürdigem medizinischem Nutzen ist, »Leukämie« aber ein präzises Krankheitsbild, ist »Blutkrebs« der weniger informative Ausdruck. Dass er aber den Krebs anklingen lässt, spricht Assoziationen und Emotionen an, die das Wort »Leukämie« für die breite Öffentlichkeit vermutlich nicht in diesem Maße birgt. Wahrscheinlich wurde bei irgendwelchen Studien der Agentur, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit der DKMS kümmert, festgestellt, dass es stärker zum Spenden animiert, von »Blutkrebs« statt von »Leukämie« zu sprechen.
Einmal mehr wird klar: Wenn wir Sprache nutzen, dann nicht nur, um Gegenstände oder Phänomene zu bezeichnen, sondern auch, um mit der Art der Zeichen, die wir verwenden, Wirkungen zu erzielen. Manchmal kann das weniger bedeutsame Wort das sinnvollere sein. Wenn wir es auf die Spitze treiben, können wir sogar sagen, dass wirkungsvolle Literatur (sofern sie fiktional ist) sinnvolle Bedeutungslosigkeit ist. Schwierig wird es, wenn der Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung bestritten wird – etwa, wenn jemand darauf beharrt, jede eindeutige Bezeichnung für bestimmte Personengruppen sei gleichwertig und gleich legitim, unabhängig davon, welchen emotionalen Gehalt sie mit sich führt; oder umgekehrt, wenn jemand behauptet, ein bestimmter sprachlicher Ausdruck sei die einzig legitime Bezeichnung für ein bestimmtes Phänomen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben