Warkus' Welt: Familie ist, wen man dazu macht
Als Kind der 1980er Jahre bin ich mit einem ganz klaren Bild von Familie aufgewachsen: Vater, Mutter, Kinder. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich als kleiner Junge dachte, zwei Kinder wären gewissermaßen der Standard. Jede Familie mit mehr oder weniger Kindern fand ich ungewöhnlich, ebenso das in meiner Heimatgegend gar nicht so seltene Phänomen, noch mit den Großeltern in einem Haus zu wohnen. Seitdem haben sich die Vorstellungen davon, was Familie sein kann, erweitert: Dass ihr Kern notwendigerweise ein heterosexuelles verheiratetes Paar sein muss, gilt heute als überholt. Vor fast genau 25 Jahren formulierte die damals neu angetretene Bundesfamilienministerin Christine Bergmann den Satz: »Familie ist, wo Kinder sind.«
Noch meine Elterngeneration hat, zumindest auf dem Land, weitere Aspekte von Familie kennen gelernt, die heute eher in Vergessenheit geraten sind. Zum Beispiel das Zusammenleben unter einem Dach mit Personen, die in irgendeiner Form in Haushalt oder Landwirtschaft mitwirken und mit der Kernfamilie verwandt sein können, es aber nicht zwingend sein müssen. Der Übergang zwischen versorgten Bedürftigen, mithelfenden Angehörigen und lohnabhängigem Personal war unter solchen Umständen fließend: ein entfernter Nachhall von antiken Familienvorstellungen, bei denen zwischen »Kernfamilie« und Hausgemeinschaft nicht abgegrenzt wurde. Mitunter rechnete man sogar Sklaven und Vieh zur Familie.
Eine philosophische Frage, die solche Veränderungen aufwerfen, ist jene danach, in welcher Beziehung sie zu unserer Begriffsbildung stehen. Wo kommen unsere Begriffe her?
Man kann sich, wenn man möchte, auf unanfechtbare höhere Autoritäten beziehen. Wer streng traditionell katholisch ist, der beruft sich für seinen Begriff von Familie beispielsweise letztlich auf göttliche Offenbarung. In der Regel gewinnen wir unsere Begriffe jedoch durch eigenen Vernunftgebrauch. Dabei kann man sich unterschiedliche Ansätze vorstellen: Einerseits kann man in sich hineinschauen, die eigene Intuition und die erlernten Vorstellungen betrachten und sich mit anderen austauschen, um zu einem Konsens zu kommen. Andererseits kann man Phänomene in der Welt betrachten (möglichst unvoreingenommen) und versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden, die es erlauben, sie sinnvoll unter einen terminologischen Hut zu bringen.
Die Vorstellung davon, was richtig und was falsch ist, geht Begriffen voraus
Interessant wird es dort, wo solche unterschiedlichen Vorgehensweisen nicht zum selben Ergebnis kommen. Die amerikanische Philosophin Sally Haslanger (* 1955) hat dies unter anderem für den Begriff »Eltern« demonstriert: In der Praxis – zum Beispiel an einer Grundschule – kann sich ein Begriff von »Eltern« ergeben, der etwa auch erziehungsberechtigte Großeltern oder stark in die Erziehung eines Kindes involvierte erwachsene Geschwister mit einbezieht. Der Begriff, der sich aus der Betrachtung und dem Abgleich unserer inneren Vorstellungen ergibt, dürfte hingegen auch heute noch in der Regel um biologische Abstammungsbeziehungen kreisen.
Mit solchen Abweichungen kann man unterschiedlich umgehen. Die Grundschule könnte sich entscheiden, gar nicht mehr von »Eltern« zu sprechend, sondern nur noch von »Erziehungsberechtigten«. Oder sie pocht umgekehrt darauf, dass zum Elternabend tatsächlich nur Eltern im juristischen oder gar biologischen Sinne erscheinen dürfen. Der Begriff »Eltern« könnte aber auch weiterentwickelt werden, zum Beispiel mit dem Ziel, nicht biologisch verwandte Erziehungsberechtigte nicht mehr länger zu benachteiligen. Man kann sich natürlich auch das Gegenteil vorstellen, den Versuch, den Begriff so zu entwickeln, dass er die Privilegierung biologischer Eltern sogar noch verstärkt, aus welchen Gründen auch immer.
In dieser Sichtweise ist unser Umgang mit Begriffen, die einen Bezug zur Gesellschaft haben, in einer sich verändernden Welt nicht zweckfrei und neutral. Unter welchen Umständen ein Satz wie »X gehört zur Familie von Y« wahr ist, können wir dann nur entscheiden, wenn wir Vorstellungen davon haben, was im menschlichen Zusammenleben richtig und was falsch ist. Diese Vorstellungen gehen den Begriffen voraus – wir können nicht aus dem, was wir heute unter Familie verstehen oder so nennen, ableiten, was gut und was schlecht ist. Das ist gerade unterm Weihnachtsbaum möglicherweise ein ganz beruhigender Gedanke.
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