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Warkus' Welt: Führt die Realität ein Eigenleben?

Menschen können die Dinge nur von ihrem Standpunkt aus betrachten. Doch bei vielem, was je passiert ist, waren sie gar nicht dabei. Eine Kolumne über die Konsequenzen dieser Tatsache.
Künstlerische Darstellung des Urknalls

Menschen oder zumindest menschenähnliche Wesen gibt es auf der Erde, wenn man den Begriff so weit wie möglich auslegt, höchstens seit einigen Millionen Jahren. Mit rund 4,6 Milliarden Jahren ist die Erde also Pi mal Daumen 1000-mal älter als der Mensch und seine entfernten Vorfahren. Das Universum insgesamt ist noch dreimal älter (rund 13,81 Milliarden Jahre), wobei die Erde natürlich nur einen einzelnen Planeten eines einzelnen Sterns von vielen Trilliarden darstellt.

Der Mensch hat den allergrößten Teil von allem, was es je materiell gibt und gab, also nie kennen gelernt. Dieser Gedanke ist für uns heutzutage einigermaßen selbstverständlich, denn auch wenn die genauen Größenordnungen vielleicht kein Alltagswissen sind: Von so etwas wie Urknall und Evolution haben in unserer Gesellschaft die meisten schon gehört.

Nun ist bekanntermaßen vieles von dem, womit wir in unserem Alltag zu tun haben, nicht vom Menschen unabhängig zu denken. Steuern, Firmen, Bücher, Software, zwischenmenschliche Beziehungen, abstrakte Begriffe, politische Überlegungen: All das ist Menschenwerk. Aber auch Gegenstände, die wir »natürlich« nennen, stehen zu uns Menschen in einer Beziehung. Der Baikalsee mag 25 Millionen Jahre alt sein – als See identifiziert und mit einem Namen bezeichnet haben ihn Menschen, und wenn wir ihn anschauen und uns gegebenenfalls darüber unterhalten, ob das Wasser für uns eher blau oder grün aussieht (vielleicht auch türkis oder aquamarin?), hat das mit unserer speziellen menschlichen Wahrnehmung zu tun.

Vieles ist dem Menschen nur durch enorme Kunstgriffe zugänglich

Die neuzeitliche philosophische Diskussion um Erkenntnis, um sichere Quellen von wahrem, neuem Wissen, kreist um die Frage, ob wir irgendetwas wissen können, was nicht durch unsere Wahrnehmung und unseren Verstand vermittelt ist. Enorm einflussreich ist dabei die von Immanuel Kant geprägte Vorstellung, dass es zwar »Dinge an sich« gibt, deren Existenz von uns unabhängig ist, zu denen wir aber keinerlei Zugang haben, der nicht an unsere beschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeiten gebunden ist. Wie oben geschildert, heißt dies aber, dass der allergrößte Anteil von allem, was es je gab, gibt und geben wird, nur durch enorme Kunstgriffe zugänglich ist, die immer irgendetwas damit zu tun haben, dass man sich in Situationen hineindenkt, »als ob« ein Mensch zugegen wäre. Oder dass man Analogien zu vom Menschen kontrollierbaren Situationen zieht – wenn man etwa das Geschehen beim Einschlag von Meteoriten auf dem Mond vor Jahrmilliarden mit Beschussversuchen im Labormaßstab vergleicht.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Obwohl wir recht genau zu wissen meinen, wie die Welt dort war oder ist, wo wir Menschen nicht waren, lösen sich alle unsere Beschreibungen der Welt bei naher Betrachtung in völlig menschengemachte Strukturen auf: Wenn wir etwa feststellen, dass zusammengesetzte Gegenstände nicht so eindeutig zu identifizieren sind, wie wir es gerne hätten, und dann darauf kommen, dass die ganze Welt nur aus Zusammenstellungen von Elementarteilchen besteht, wir Elementarteilchen aber ohne Weiteres gar nicht wahrnehmen oder berühren können.

Gerade in der heutigen Philosophie wird daher wieder energisch diskutiert, wie sehr die Realität, über die wir reden, sozusagen ein Eigenleben führt – eine Diskussion, die mit Begriffen wie »spekulativer Materialismus« und »neuer Realismus« verknüpft ist. Auf unser bürgerliches Alltagsleben hat eine Positionierung in dieser Auseinandersetzung keine Wirkungen: Ich kann ein Ei kochen und essen, ohne entscheiden zu müssen, welche Eigenschaften es in einer Welt ohne Menschen hätte. Aber es ist sicher kein Zufall, dass diese Diskussion auch mit Naturwissenschaftlerinnen und Mathematikern engagiert geführt wird, denn grundsätzliche Fragen darüber, wie wir an gesichertes neues Wissen gelangen, interessieren nicht nur die Philosophie.

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