Warkus' Welt: Er stirbt an einem anderen Tag
Vergangene Woche habe ich mir einen alten James-Bond-Film angesehen. Er stammte noch aus der Zeit, bevor Daniel Craig 2006 die Rolle des Doppelnullagenten übernahm. Damals war völlig klar, wie ein solcher Film enden würde: mit einem Happy End in irgendeinem exotischen Liebesnest, nachdem das Hauptquartier des Schurken in die Luft geflogen ist.
Da man schon zu Beginn weiß, wie der Film ausgehen wird – sogar ganz unabhängig davon, ob man nun diesen konkreten Film kennt oder nicht –, ist auch klar, dass bestimmte Ereignisse in der gezeigten Handlung niemals eintreten können. Bond wird nie bei einem Schwertkampf enthauptet werden, sein Motorboot wird nie von einer Mörsergranate getroffen werden, aus jeder noch so ausweglosen Situation wird er sich irgendwie befreien. (Kenner dürften anhand der Beispiele schon ahnen, dass ich »Moonraker« gesehen habe, vielleicht den Höhepunkt der absurden Bond-Filme der 1970er Jahre.)
Spannung hat mit Furcht und Hoffnung zu tun
James Bond ist also im Universum des Films gewissermaßen unsterblich, weil er bis zum Happy End überleben muss. Trotzdem ist der Film praktisch ununterbrochen spannend. Ist das nicht paradox? Was ist spannend daran, jemandem bei etwas zuzuschauen, von dem vollkommen klar ist, wie es endet? Wenn Bond ohne Fallschirm aus einem Flugzeug geworfen wird, wissen Sie und ich, dass er auf dem Weg nach unten irgendwie einen Fallschirm ergattern oder anderweitig seinen Sturz abbremsen wird, ganz gleich, auf wie unwahrscheinliche und haarsträubende Weise er das anstellt. Und dennoch ist es fesselnd, ihm dabei zuzusehen. Wenn Sie so sind wie ich, dann vergessen Sie sogar kurz zu atmen, weil es so spannend ist. Wie kommt das?
Spannung hat in der Regel mit Furcht und Hoffnung zu tun. Es ist spannend, einen Lastwagen in einer sehr schmalen Autobahnbaustelle zu überholen, weil man fürchtet, dass man die Außenspiegel verliert (oder Schlimmeres), und weil man zugleich hofft, dass man mit zwei intakten Spiegeln und auch sonst heil aus der Situation herauskommt. Dass aber James Bond – zumindest der des Jahres 1979 – aus jeder Situation heil herauskommen wird, das wissen wir ganz sicher. Warum fühlen wir dann Spannung? Und das sogar mehrfach, wenn wir den Film mehrfach anschauen?
Vier Wege aus dem Spannungsparadoxon
Der amerikanische Filmphilosoph Noël Carroll (*1947) hat für dieses Phänomen den Begriff »Spannungsparadoxon« (paradox of suspense) geprägt. Es gibt vier Hauptansätze dazu, das Rätsel zu lösen.
Die erste Hypothese besagt: Spannung und die mit ihr verbundene Mischung aus Furcht und Hoffnung empfinden wir nicht erst dann, wenn wir ernsthaft unsicher über den Ausgang einer Situation sind, sondern bereits, wenn wir uns die Unsicherheit bloß vorstellen. Spannung ist damit vergleichbar mit der Mischung aus Angst, Schrecken und einem mauen Gefühl in der Magengegend, das sich einstellt, wenn wir uns zum Beispiel vorstellen, wir würden selbst aus einem Flugzeug oder von einer hohen Klippe fallen.
Einer anderen Hypothese zufolge entsteht Spannung überhaupt nicht aus Unsicherheit heraus. In Wirklichkeit entsteht sie aus der Frustration unseres Verlangens: Wenn sich der Mörder unerkannt an sein Opfer anschleicht, möchten wir es warnen, aber auf Grund der Natur des Mediums Film, die jede Interaktivität ausschließt, sind wir völlig ohnmächtig.
Die dritte Hypothese geht davon aus, dass Spannung schon auf Unsicherheit beruht, aber diese Unsicherheit mit dem Wissen darüber, wie eine Handlung ausgeht, nichts zu tun hat. Denn aus irgendwelchen, möglicherweise evolutionären Gründen sind wir, wenn wir von einer Geschichte gefesselt sind, unfähig, uns in diesem Moment aktiv daran zu erinnern, wie sie ausgeht, selbst wenn wir es genau wissen.
Die vierte Hypothese besagt schließlich: Spannung ist, wenn wir den Ausgang kennen, gar kein Produkt von Unsicherheit, sondern von Erwartung. Wir fiebern darauf hin, dass etwas passiert, von dem wir wissen, dass es passieren wird, nehmen dieses Hinfiebern aber fälschlicherweise als Furcht und Hoffnung – also als Spannung – wahr. Es gibt demnach gar kein Paradoxon, nur eine weit verbreitete Fehlleistung beim Einschätzen unserer eigenen Empfindungen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir erscheinen alle vier Ansätze ungefähr gleich wenig plausibel (und alle sind umfangreich kritisiert worden). Was ich beim Schreiben dieser Kolumne gemerkt habe, ist aber eines: Ich möchte, wenn ich den nächsten vorhersehbaren Actionfilm schaue, genau in mich hineinhorchen und darauf achten, was in mir passiert, wenn es spannend wird. Sofern ich dann nicht völlig gebannt bin von dem, was auf der Leinwand passiert. Auch wenn Roger Moore am Ende ohnehin immer überlebt.
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