Warkus' Welt: Kann man aus Romanen etwas lernen?
Ein begabter, armer Jurastudent fühlt sich anderen so weit überlegen, dass er sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingt. Er ermordet unerkannt zwei Menschen, stellt sich aber zuletzt doch den Behörden.
Ein gewissenloser Reserveoffizier, der wenige Talente, aber ein gutes Aussehen mitbringt, nutzt verschiedene Frauen der besseren Pariser Gesellschaft gnadenlos aus. Er geht über Leichen, wird ein Erfolgsjournalist und heiratet reich.
Eine Klavierlehrerin, die mit 36 noch bei ihrer furchtbaren Mutter lebt, versucht auf verschiedenen Wegen, ihre unterdrückte Sexualität auszuleben. Sie kommt einem ihrer Schüler näher, wird aber am Ende von ihm vergewaltigt.
Das sind – in Kürze – die Handlungen dreier bekannter Romane der Weltliteratur: »Schuld und Sühne« von Fjodor Dostojewski (1866), »Bel-Ami« von Guy de Maupassant (1885) und »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek (1983). Warum lesen wir solche Bücher eigentlich?
Es gibt autobiografische Literatur, durch die man etwas über bestimmte Personen und ihr Leben erfahren kann. Es gibt historische Literatur, aus der man etwas über die Geschichte lernen kann. Aber man ist schlecht beraten, sich nur aus Romanen zu informieren; alles darin kann erfunden oder verfremdet sein. Das soll es sogar sein, sonst handelt es sich nicht um fiktionale Literatur, sondern um Memoiren oder ein Sachbuch.
Dennoch glauben manche, dass man aus Literatur, die Erfundenes und Verfremdetes beschreibt und erzählt, viel lernen kann. Das ist keine Nischenmeinung, selbst unser Schulsystem beruht darauf. Ich habe im Deutschunterricht unter anderem gelernt, wie man Tiere beschreibt und wie man eine Kaffeemaschine bedient. Spätestens ab der Mittelstufe habe ich allerdings vor allem Literatur lesen und darüber reden und schreiben müssen – wie Sie vermutlich auch.
Moral bei Dostojewski
Was kann man nun aus Literatur lernen? Wissenschaftliche Fakten sind es offensichtlich nicht. Das Erfundene in einem Roman ist nicht »wahr« in dem Sinn, in dem historische Wetteraufzeichnungen oder korrekte Landkarten wahr sind. Doch hat zum Beispiel Stefan Zweig gesagt, bei Dostojewski gebe es eine »tiefere Wahrheit …, die gleichsam tief unter der Haut der Dinge liegt und schon nah dem Herzpunkt aller Existenz«. Gerade Dostojewski wird übrigens immer wieder von Philosophen empfohlen. Die Ansicht, dass man durch die Lektüre von »Schuld und Sühne« mehr über Moral lernen könne als aus philosophischen Abhandlungen, ist gar nicht so selten.
Noch anspruchsvoller wird es, wenn wir uns in Richtung Lyrik bewegen. 2020 feiern wir den 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin (1770–1843), der unter anderem deshalb als einer der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache gilt, weil sein Werk nicht nur philosophisch inspiriert war, sondern auch die Philosophie bis heute beeinflusst. Wenn es jemanden gibt, in dessen Gedichten man »philosophische Wahrheit« verortet, dann ist es sicher Hölderlin. Aber was für eine Wahrheit kann das sein?
Wenn es jemanden gibt, in dessen Gedichten man »philosophische Wahrheit« verortet, dann ist es sicher Hölderlin
In der philosophischen Beschäftigung mit fiktionaler Literatur gibt es, grob gesagt, zwei Hauptströmungen: Kognitivisten sind der Meinung, dass in ihr tatsächlich konkretes Wissen transportiert wird. Das könnte zum Beispiel in Satzform ausdrückbares Wissen sein, wie wir es auch aus einem Sachbuch, einer wissenschaftlichen Studie oder einem Experiment gewinnen könnten. »Schuld und Sühne« wäre dann so etwas wie eine 768 Seiten lange hypothetische Fallstudie, aus der wir Wissen über moralische Werte und das menschliche Verhalten entnehmen können. Es könnte auch »nicht satzförmiges« Wissen sein: eine Art praktische Kompetenz, die uns hilft, unser Leben zu bewältigen, ohne dass man ihren Inhalt niederschreiben könnte.
Nonkognitivisten sehen das anders. Sie sind der Meinung, dass Literatur uns vielleicht ermöglicht, bestimmte Erfahrungen zu machen (und sei es nur, unterhalten, gelangweilt oder verängstigt zu werden), sie uns aber als solche keine Wahrheit vermittelt: Wenn wir einen Roman lesen und etwas lernen, sei das eine Nebenfolge, weil das Buch sozusagen auch Sachbuchaspekte habe. Mit seinem eigentlichen Charakter als Roman habe der Lerneffekt nichts zu tun.
Wie so oft in der Philosophie sind die Meinungen geteilt, und die Diskussion ist vielleicht interessanter als das mögliche Ergebnis. Was ich persönlich aus der Arbeit an dieser Kolumne mitgenommen habe, ist zum einen, dass ich endlich einmal etwas von Dostojewski oder Hölderlin lesen sollte. Zum anderen: Wenn ich fiktionale Literatur lese, habe ich (wie vermutlich wir alle) regelmäßig Aha-Momente, in denen ich meine, etwas Neues erfahren zu haben. In Zukunft werde ich versuchen, genauer darauf zu achten, was dieses Neue ist und was seinen Wert ausmacht. Die Philosophie hat mir also einen neuen Blick auf mich selbst eröffnet: Sie hilft mir, mich zu reflektieren. Dafür ist sie da – nicht nur, aber auch.
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