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Warkus' Welt: Schrecklich schön

Eine verwitterte Ruine, ein tosendes Gewitter, Beethovens fünfte Sinfonie: Manche Dinge bewegen uns nicht, weil sie schön, sondern weil sie »erhaben« sind. Unser Kolumnist erklärt, was es mit dem Begriff auf sich hat.
Gewitterwolken verdrängen die Sonne über einem Tal mit grünen Wiesen, Feldern und Häusern
Nicht schön, aber doch beeindruckend: Ein Gewitter aus sicherer Entfernung zu beobachten, löst oft ambivalente Gefühle aus.

Stellen Sie sich vor, Sie schauen an einem Sommerabend, beim letzten Tageslicht, aus einem hoch gelegenen Zimmer durch ein geschlossenes Fenster auf eine liebliche Hügellandschaft, während draußen in einiger Entfernung ein Gewitter aufzieht. Sie sehen Wälder, Lichtungen, malerische kleine Dörfer und Gehöfte, Abendrot, einen Zipfel der untergehenden Sonne. Kurz darauf bemerken Sie dann, wie sich pechschwarze Wolken zusammenziehen. Es wird immer dunkler, die Sonne verschwindet. Plötzlich erschallt eine nicht enden wollende Kette von Donnerschlägen, Blitze flackern, dann geht rauschend ein sintflutartiger Regen nieder. Aus dem Tal hört man Sirenen. Blaulicht zuckt vorbei. Sie sind sicher und warm hinter Ihrem Fenster. Was geht in so einer Situation in Ihnen vor?

Wenn wir die Welt um uns herum mit unseren Sinnen und den geistigen Fähigkeiten wahrnehmen, die unsere Sinne unterstützen und leiten, können wir alles oder zumindest sehr vieles von dem, was wir da wahrnehmen, beurteilen. Die Urteile, die wir fällen, können natürlich die reine Zweckmäßigkeit betreffen, die mehr oder minder große Eignung von etwas zur Erfüllung einer bestimmten Aufgabe. So schauen Sie vielleicht vom Fenster auf verschiedene Wege um eine Kuppe herum und überlegen sich, dass Sie am nächsten Morgen vermutlich am besten über den linken Weg mit dem Fahrrad zur Bäckerei im Nachbarort kommen.

Es gibt aber auch Urteile, in denen es um mehr als Zweckmäßigkeit geht. Es ist zum Beispiel recht wahrscheinlich, dass Sie die liebliche Hügellandschaft nicht nur danach beurteilen, wie sie landwirtschaftlich nutzbar ist oder welche Hindernisse sie dem Verkehr entgegensetzt. Vermutlich finden Sie sie auch schön. Die philosophische Disziplin, die sich mit schön und hässlich und allem, was damit zu tun hat, beschäftigt, ist die Ästhetik. Daher sprechen wir hier von einem ästhetischen Urteil.

Was ist jetzt aber, wenn das Gewitter hereinbricht, wenn Sie Donner, Blitz, Starkregen und Einsatzfahrzeuge wahrnehmen? Es kann gut sein, dass dann ein Schauer über Ihren Rücken läuft, Sie in gewisser Weise beeindruckt und erschüttert sind. Vermutlich finden Sie das Gewitter aber nicht schön, und vor allem finden Sie den Schaden nicht schön, den es anrichtet. Wie sollen wir Ihre Gedanken über das Gewitter einordnen?

Angenehm und unangenehm zugleich

Die philosophische Tradition hat hierfür einen Namen: Sie finden das Gewitter erhaben. »Das Erhabene« ist neben der Schönheit vermutlich der wichtigste Begriff der Ästhetik und wurde von vielen Theoretikern insbesondere des 18. Jahrhunderts behandelt, zum Beispiel von Edmund Burke und Immanuel Kant. Erhaben ist, was nicht (nur) gefällt und angenehme Empfindungen erregt, sondern auch irgendwie mit Unangenehmem zu tun hat, mit Naturgewalten, die einem selbst gefährlich werden könnten, wenn man ihnen nicht entzogen wäre. In früheren Zeiten war ein beliebtes Beispiel für das Erhabene ein Schiffsunglück, bei dem man aus sicherer Entfernung hilflos dem zerstörerischen Wirken der Naturgewalten zuschaut.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Die besondere Kombination aus Erschrecken vor Kräften, denen man nichts entgegenzusetzen hat, und eigener relativer Sicherheit lässt sich auf die Wahrnehmung verschiedenster Situationen und Gegenstände übertragen. So kann die verwitterte Ruine einer einst mächtigen Festung erhaben erscheinen – sie zeigt ein Potenzial von kriegerischer Gewalt, zu der wir uns aber in sicherer zeitlicher Distanz befinden. Aber auch bestimmte Arten von Musik, etwa Beethovens fünfte Sinfonie oder Bachs große Orgelwerke, gelten als erhaben, weil sich in ihnen – natürlich auf weniger direkte Weise – eine Form von gewaltiger Macht ausdrückt, die uns aber nichts anhaben kann. Auch Kriege in fernen Ländern können unter diesen Gesichtspunkten als erhaben wahrgenommen werden. Diese Sichtweise ist allerdings – heute wie im 18. Jahrhundert – umstritten.

Ich habe in dieser Kolumne öfters erwähnt, dass ich es als die Hauptleistung der Philosophie betrachte, Wörter zu liefern, mit denen man Unterschiede ausdrücken kann, die man sonst nicht machen könnte. Der fachsprachliche Sinn von »erhaben« ist ein hervorragendes Beispiel: Er gibt etwas einen Namen, was wir vom Wetter über das Actionkino bis hin zu Pressefotos, Architektur und Musik überall entdecken können, sobald wir nur ein Wort dafür haben.

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