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Warkus' Welt: Von sphärischen Kühen und einem bildhübschen Mörder

Abstrahieren zu können, erleichtert das Denken. Aber wehe, Sie schießen über das Ziel hinaus. Dann produzieren Sie womöglich kugelförmige Kühe im Vakuum, warnt unser Kolumnist.
Eine braune Kuh liegt auf einer Almwiese in den Alpen. Im Vordergrund hält eine Hand eine Glaskugel, in der sich die Kuh auf dem Kopf spiegelt.
Eine Frage der Abstraktion: Kann es kugelförmige Kühe geben? Konkret wohl kaum – sofern man sein Denken im Griff hat.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Philosophie kann man als eine Art Wettbewerb betrachten, so abstrakt zu denken und zu argumentieren wie nur irgend möglich. Der amerikanische Philosoph Wilfrid Sellars (1912–1989) hat das einmal so ausgedrückt: »Das Ziel der Philosophie, abstrakt formuliert, ist es zu verstehen, wie Dinge im weitestmöglichen Sinn des Wortes im weitestmöglichen Sinn des Wortes zusammenhängen.« In meiner letzten Kolumne habe ich ein Verständnis von Abstraktion vorgestellt, das auf dem Begriff der Äquivalenzrelation basiert und auch in der Mathematik verwendet wird. Abstraktion läuft demnach im Grunde immer darauf hinaus, dass man zwei unterschiedliche Dinge in einer bestimmten Hinsicht einander gleichsetzt. Man löst die Details vom Konkreten ab und nähert sich so dem Abstrakten einer Sache an.

Nun kann es natürlich passieren, dass jemand beim Abstrahieren die falschen Details ablöst oder eine falsche Äquivalenzrelation anwendet, wie dieser – immer wieder gern erzählte – Witz vom theoretischen Physiker und den Milchkühen illustriert:

Ein Bauer hat Probleme mit der Milchproduktion seiner Kühe und bittet einen theoretischen Physiker um Hilfe. Der Physiker analysiert die Situation und kommt nach intensiven Berechnungen zu dem Schluss: »Ich habe die Lösung, aber sie funktioniert nur bei kugelförmigen Kühen im Vakuum.«

Diese längst sprichwörtlichen sphärischen Kühe im Vakuum verdeutlichen, was beim Abstrahieren falsch laufen kann. Die Tiere werden hinsichtlich ihrer physikalischen Eigenschaften wie etwa Masse oder Volumen äquivalent zu Kugeln gesetzt. Und dabei kann beispielsweise das Detail, dass sie Milch geben und wie viel, völlig verloren gehen, obwohl es eigentlich genau darum geht.

Aber selbst, wenn wir keine so offensichtlich untauglichen Vereinfachungen betreiben: Bringt abstraktes Denken nicht grundlegende Probleme mit sich? Mit dieser Frage hat sich schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) auseinandergesetzt. In einem posthum veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel »Wer denkt abstrakt?« brachte er das Beispiel eines Mörders vor, der zur öffentlichen Hinrichtung geführt wird. Jemand in der Menge bemerkt, dass der Verurteilte ein gut aussehender Mann sei – und das »gemeine Volk«, wie Hegel schreibt, empört sich prompt darüber, wie man denn einen Mörder schön nennen könne. Oder jemand studiert das Leben des Verbrechers und findet dort Gründe für den Mord. Hier würde der Vorwurf laut, da wolle ja jemand ein Verbrechen entschuldigen. In Hegels Worten: »Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, dass er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm vertilgen.«

Vorsicht vor Verallgemeinerungen

Entgegen dem Ruf von abstraktem Denken als metaphysisch, fremd und in höheren Sphären schwebend ist es für Hegel also gerade der in Wahrheit ungebildete, simple Mensch, das »gemeine Volk«, das in seinen Verallgemeinerungen abstrakt denkt. Wer hingegen gebildet ist und über Menschenkenntnis verfügt, beschäftigt sich mit dem Konkreten, ja ist in der Lage, auch Gegensätzliches zusammenzudenken: Ein verurteilter Mörder kann sehr wohl bildhübsch sein oder eine Lebensgeschichte haben, die seine Tat nachvollziehbar macht – dennoch bleibt er ein Mörder.

Das bedeutet freilich nicht, dass es ganz und gar unzulässig wäre, in allgemeinen Begriffen zu denken und zu reden. Vom trivialsten Alltagsgeschehen bis hin zur anspruchsvollsten Wissenschaft erfordern unsere Lebensvollzüge es ständig, Verallgemeinerungen zu schaffen und anzuwenden. Aber die Begriffe dürfen das Konkrete, was mit ihnen gefasst werden soll, eben nie ganz auffressen. Man sollte also dem von Sellars formulierten Auftrag der Philosophie eine wichtige Fußnote hinzufügen: Vorab wäre zu klären, was überhaupt der »weitestmögliche Sinn« eines Wortes ist, gerade bei anspruchsvollen philosophischen Begriffen wie »Dingen«, die »zusammenhängen«. Wie, so müssen wir fragen, soll ein passendes allgemeines Denken aussehen, das das Konkrete nicht durch das Abstrakte – in Hegels Worten – »vertilgt«?

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