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Warkus' Welt: Vom Leben durch Luft, Spektakel und Backen

Für manche mag das Leben vor allem Anlass zur Sorge um Selbsterhaltung und bloßes Funktionieren sein. Es gibt da aber auch diese ganz andere Sichtweise, wirft Matthias Warkus ein.
Backen eines Christstollens

Wenn die Tage kürzer werden und Weihnachten im Kalender erschreckend schnell heranrauscht, tue ich seit zirka zehn Jahren vor allem eins: Ich backe Stollen. Immer ziemlich viele, immer nach demselben Rezept; ein Teil zum Verschenken, ein Teil zum Eigenverbrauch. Mit anderen Plätzchen hat es dieses Jahr nicht so gut geklappt, aber es sind ja noch ein paar Tage.

Adventszeit ist jedenfalls Backzeit, und das ist nicht nur bei mir so: Soweit es repräsentative Erhebungen hergeben, backen etwa zwei Drittel der Deutschen Weihnachtsgebäck. Backen macht aber auch zu anderen Zeiten Freude. Es hat eine eigene Faszination, freiwillig und mit etwas Muße einen Kuchen zu fabrizieren, besonders, wenn andere Leute das gute Stück hinterher mit Vergnügen verzehren.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Wenn wir dem litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1905–1995) folgen, dann ist das Herstellen und das Essen eines Gebäcks nicht einfach nur irgendetwas, was wir Menschen, neben vielem anderem, eben so tun. Im Gegenteil, es ist elementarer Bestandteil dessen, was unser Sein als Menschen ausmacht: der Interaktion mit der Welt und den Mitmenschen.

In seinem Hauptwerk »Totalität und Unendlichkeit« (1961) schreibt Levinas:

»Wir leben von ›guter Suppe‹, Luft, Licht, Spektakel, Arbeit, Idee, Schlaf und so weiter … Dabei sind dies nicht Objekte von Vorstellungen. Wir leben davon/daraus. … In diesem Sinne ist jeder Genuss Ernährung«

Martin Heidegger, von dem Levinas sich hier abgrenzt, hatte das Dasein vor allem als Sorge betrachtet: Ständig ist irgendwas, immer rennt man etwas hinterher, was zu erledigen ist. Nach Heidegger existieren große Teile der Welt, die uns umgibt, für uns daher primär als Mittel, um etwas zu bewerkstelligen. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, eingesponnen in ein Geflecht von Bedeutungsbeziehungen: Die Waage ist dazu da, die Schüssel daraufzustellen, das Mehl ist dazu da, in die Schüssel geschüttet zu werden, das Rührgerät ist dazu da, damit den Teig zu rühren. All diese Gegenstände als solche fallen uns erst auf, wenn sie irgendwie ihren Job nicht machen, wenn die Batterie in der Waage leer ist, wenn Motten im Mehl sind, wenn das Rührgerät einen Wackelkontakt hat.

Dagegen sieht Levinas die Welt als voll von grundlegenden Mehrwerten und Überschüssen, die wir aus dem ziehen, was wir tun, wenn es etwas für uns tut:

»Das Leben ist Liebe zum Leben, Verhältnis zu Gehalten, die nicht mein Sein sind, sondern lieber und teurer als mein Sein: denken, essen, schlafen, lesen, arbeiten, sich in der Sonne wärmen«

Schlüsselbegriff dabei ist der Genuss (französisch: »jouissance«). Eine französische Dozentin hat ihn mir seinerzeit erklärt als: in ein Stück Kuchen beißen, sich daran freuen, dass es schmeckt, und sich darüber freuen, dass man sich daran freut. (Ich weiß, dass ein Stollen kein Kuchen ist, aber wenn Sie mal in ein Stück von diesem Christstollen gebissen haben, dann wissen Sie, was damit gemeint ist.)

Diese Sicht auf das Dasein hat natürlich Konsequenzen für unser Verhältnis zu Mitmenschen. Wir genießen es nicht nur, einen Stollen zu essen, wir genießen auch, einen zu backen und mitzuerleben, dass er beim Weihnachtskaffee innerhalb von 20 Minuten genussvoll weggefuttert wird, weitestgehend von anderen Leuten. Arbeit ist mehr als Selbsterhaltung und Folge der Sorge, sondern ist zum Beispiel Herstellung von Gütern, mit denen man es sich gemütlich machen kann, mit denen andere bewirtet werden können.

Was uns zu höherer Erkenntnis bringt, ist bei Levinas dann auch die Interaktion mit anderen. Der weitere Schlüsselbegriff neben der »jouissance« ist bei ihm das Antlitz: Die Begegnung mit dem Anblick des anderen hat etwas Unendliches, dadurch, dass jeder andere Mensch mir in gewisser Hinsicht stets unerreichbar fremd bleibt, obwohl es immer auch eine grundlegende Beziehung von Nähe und Ähnlichkeit gibt. Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die man gerade beim Weihnachtskaffee mit entfernterer Verwandtschaft oft gut nachvollziehen kann.

Levinas war Jude und hat seine ganze Familie im Holocaust verloren (während Heidegger übrigens ein Nazi und ein Antisemit war). Gegen die Vereinnahmung durch die christliche Theologie hat er sich energisch gewehrt, und daher will ich gar keine Verbindung zu den religiösen Gehalten von Weihnachten herstellen. Ich glaube aber, dass auch so halbwegs klar wird, was ein Denken über Genuss und zwischenmenschliche Begegnung spezifisch mit Weihnachten zu tun haben könnte.

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