Warkus' Welt: Warum Macht besser geteilt wird
Man kann in Deutschland auf unterschiedlichste Weise in Berührung mit einem Gericht kommen – sei es, weil man einer Straftat angeklagt wird, eine zivile Rechtsstreitigkeit austrägt, man mit dem Arbeitgeber, der öffentlichen Verwaltung, einer Sozialversicherung oder dem Finanzamt ein Hühnchen zu rupfen hat. Eines ist dabei aber immer gleich: Welches Gericht zuständig ist, steht fest, die Zuständigkeiten sind gesetzlich geregelt. Beleidige ich beispielsweise vor meiner Haustür jemanden und derjenige verklagt mich, ist ein einzelner Richter am Amtsgericht Jena zuständig (sofern es überhaupt zur Verhandlung kommt). Wer genau vor mir sitzt, steht auch vorher fest, da sich die Richter an einem Gericht selbst verwalten und sich in Eigenregie feststehende, einsehbare Geschäftsverteilungspläne geben. Vermutlich wird die Zuständigkeit letztlich vom Anfangsbuchstaben meines Nachnamens bestimmt.
Wir halten dieses »Recht auf den gesetzlichen Richter« in einem Rechtsstaat für selbstverständlich, falls wir überhaupt über so etwas nachdenken. Ich habe mich vor Jahren einmal mit einem Richter am hiesigen Amtsgericht unterhalten, der mir erklärte, dass es in der DDR-Justiz ganz anders lief. Es entschieden nicht nur die Gerichtsdirektoren relativ freihändig darüber, wer welchen Fall bekam, es gab auch regelmäßige Dienstbesprechungen, in denen vorab diskutiert wurde, in welchen Fällen wie geurteilt werden sollte. Die Gerichte niederer Instanzen wurden durch die übergeordneten Gerichte bereits während der laufenden Verfahren auf unterschiedliche Weise kontrolliert, auf allen Ebenen hatte die den Einparteienstaat beherrschende SED Einflussmöglichkeiten. Man kann das alles recht detailliert in Berichten der Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nachlesen.
Heute empfinden wir solche Vorgänge in der Regel als skandalös, weil wir eine Vorstellung von Unabhängigkeit der Justiz haben, die wiederum zurückgeht auf eine allgemeine Idee von Gewaltenteilung. Ich vermute, niemand kommt in der Schule daran vorbei, wenigstens einmal grob skizziert zu bekommen, dass es im Staat eine gesetzgebende Gewalt (Legislative), eine ausführende Gewalt (Exekutive) und eine Recht sprechende Gewalt (Judikative, Jurisdiktion) gibt, die nicht zusammenfallen. Das ist historisch gesehen keine Selbstverständlichkeit. Dass ein Herrscher auch Gerichtsherr über seine Untertanen ist und Prozesse, wenn schon nicht selbst leiten, dann wenigstens nach Belieben an sich ziehen kann, war lange eher die Regel als die Ausnahme.
Großbritannien als Vorbild
Der Name, der am engsten mit der Idee der Gewaltenteilung verbunden ist, ist der des französischen Barons Charles de Secondat Montesquieu (1689–1755), der das Thema in seinem enorm erfolgreichen Werk »Vom Geist der Gesetze« aus dem Jahr 1748 bespricht. Er erfindet die Gewaltenteilung allerdings nicht; das Kapitel, in dem er sie in seinem Buch am konkretesten bespricht, trägt den Titel »Über die Verfassung Englands«. Montesquieu trägt die vom britischen Staatsaufbau abgeleiteten Erkenntnisse jedoch vor wie allgemeine Gebote.
Die Unabhängigkeit der Justiz erwähnt er in zweierlei Hinsicht: Es muss eine Abgrenzung zwischen gesetzgebender und Recht sprechender Gewalt geben, sonst könnten diejenigen, die die Gesetze machen, auch nach ihnen richten und sich somit absolute Herrschaft verschaffen. Genauso müssen aber ebenso die vollziehende und die Recht sprechende Gewalt voneinander getrennt sein, denn sonst würde der gleichzeitige Herrscher und Richter zum Unterdrücker. Montesquieu fordert zudem, dass Gerichte aus Geschworenen bestehen sollten, die auf Zeit aus der Bürgerschaft gewählten werden – etwas, das im heutigen deutschen Rechtssystem mit der Mitwirkung von Schöffen beziehungsweise Laienrichtern nur in reduzierter Form verwirklicht ist. Er spricht außerdem davon, dass Angeklagte bei schweren Verbrechen das Recht haben müssen, diejenigen, die über sie richten, selbst zu wählen oder zumindest Ungeeignete zurückzuweisen. Im amerikanischen Rechtssystem gehen die Vorverfahren zur Auswahl der Geschworenen (»voir dire«) ein wenig in diese Richtung. Zudem sollten Gerichte stets eng am Gesetzestext, nachvollziehbar und reproduzierbar urteilen.
Der Grund, aus dem Montesquieu die Unabhängigkeit und die Einschränkung der Justiz fordert, ist letztlich derselbe, weswegen er verschiedene andere wechselseitige Einschränkungen und Begrenzungen der Staatsgewalten fordert, die ich hier nicht alle im Detail diskutieren kann. Dabei drückt er sich teils sehr direkt aus: Er möchte nicht, dass man »ständig Richter vor der Nase hat«; allgemeiner: dass kein Bürger einen anderen fürchten muss. Keine Person fürchten zu müssen, ist für ihn der Inbegriff der politischen Freiheit und damit auch der Sicherheit. Wenn man etwas fürchten muss, dann die Gesetze, nicht aber den einzelnen Richter.
Montesquieu lebte in einem Zeitalter der Monarchien. Die wenigen zeitgenössischen Republiken galten ihm eher als schlechte Beispiele. Es ist unschwer erkennbar, dass er eine liberale, mehr oder minder parlamentarische Monarchie nach britischem Vorbild für die beste Verfassung europäischer Länder hält, deren Bürger frei und sicher leben wollen. Dabei geht es immer wieder um die Funktionen des Adels und darum, wie man ihn motivieren kann, seine Aufgaben zu erfüllen, ohne zum Problem zu werden.
Wir leben in einer Republik, die keinen Monarchen kennt und auch keinen Adel mit staatlicher Funktion, aber Montesquieus grundsätzliche Überlegungen sind unverändert gültig: Frei fühlen wir uns nur, wenn wir die Sicherheit haben, dass niemand mit unkontrollierbarer Macht ausgestattet ist und mit uns umspringen kann, wie er es möchte. Heute würden wir wahrscheinlich ergänzen wollen, dass wir auch frei von Zwängen unkontrollierbarer, überpersönlicher Strukturen sein müssen.
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