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Warkus' Welt: Was aus einer Idee Wissenschaft macht

Im Traum, in der Badewanne, im Park: Einfälle können einen überall ereilen. In der Wissenschaft zählt jedoch vor allem, wie man seine Theorien begründet – und nicht, wo sie herkommen. Eine Kolumne.
Rot-gelber Apfel am Baum glänzt in der Sonne
Ein fallender Apfel soll den Mathematiker Isaac Newton einst auf die Schwerkraft gebracht haben.

Als der Genter Chemieprofessor August Kekulé 1861 einmal an seinem Schreibtisch einnickte, erschienen ihm im Traum tanzende Kohlenstoff- und Wasserstoffatome sowie ein Ouroboros, eine mythische Schlange, die sich kreisförmig krümmt und in den eigenen Schwanz beißt. Der Traum, so hat Kekulé zumindest behauptet, brachte ihn zur entscheidenden Einsicht in die ringförmige Struktur des Benzolmoleküls – einer der großen Durchbrüche in der Geschichte der organischen Chemie.

Diese Anekdote war früher populärer als heute, aber Sie kennen sie vielleicht auch noch aus dem Chemieunterricht. Sie kann als beispielhafte Geschichte eines wissenschaftlichen Einfalls gelten. Andere legendäre Erzählungen sind mehr oder minder vergleichbar: Archimedes von Syrakus, der die Badewanne zum Überlaufen bringt (»Heureka!«) oder Isaac Newton, der den Apfel fallen sieht. Kekulés Geschichte ist aber deswegen so interessant, weil sie sich im Reich des Traums, der Fantasie und des Fantastischen abspielt. Von einer Schlange zu träumen hat nichts mit der Praxis chemischen Experimentierens zu tun.

Einfälle kann man auch ganz spontan haben, ohne Badewannen, Äpfel oder Träume. Ein geflügeltes Wort in der philosophischen Wissenschaftstheorie ist, dass es reichen kann, einfach morgens einen besonders guten Kaffee zu trinken oder sich gedankenverloren zu rasieren. Der springende Punkt, der aus einem Einfall Wissenschaft macht, ist nicht, dass man ihn überhaupt hat, sondern dass man versucht zu begründen, warum an der Idee etwas dran ist.

Genese und Geltung

Nach dem einflussreichen Wissenschaftstheoretiker Hans Reichenbach (1891–1953) unterscheidet man zwischen dem so genannten Entdeckungskontext (context of discovery) und dem Begründungskontext (context of justification) einer Theorie. Das eine hat mit dem anderen nach klassischer Vorstellung nichts zu tun: Auf eine Theorie kommt man halt irgendwie, und sei es im Traum – die Begründung ihrer Geltung ist etwas ganz anderes. Um zu überprüfen, ob die These vom ringförmig konfigurierten Benzol haltbar ist, versucht man nicht, Kekulés Einschlafsituation zu reproduzieren, in der Hoffnung, dass dann wieder der Ouroboros auftaucht. Stattdessen begründet man aus dem bereits vorhandenen Chemiewissen heraus, wie das mit dem Ring funktionieren könnte. Oder man benutzt zum Beispiel ein Röntgendiffraktometer, um experimentell »nachzuschauen«.

Mit dem Unterschied zwischen Entdeckungs- und Begründungskontext hat sich die Wissenschaftstheorie seit etwa 1930 intensiv beschäftigt, unter anderem, um ihren eigenen Gegenstandsbereich genauer abzustecken. In der Regel geht man nämlich davon aus, dass es für das Entdecken von Theorien keine Gesetzmäßigkeiten gibt und es auch keinen methodischen Vorschriften genügen muss: Es ist sozusagen ein anarchischer und moralfreier Prozess, und eine Theorie darf nie danach bewertet werden, wie genau sie entdeckt wurde. Für das Begründen von Theorien hingegen gibt es methodische Vorschriften – beispielsweise die Regeln, nach denen mathematische Beweise geführt werden, oder die verschiedenen Vorschläge dafür, nach welchen Kriterien konkurrierende theoretische Erklärungen für experimentelle Messungen in den Naturwissenschaften verglichen werden sollten.

Ganz allgemein spricht man in der Philosophie – auch außerhalb der Wissenschaftstheorie – statt von Entdeckungs- und Begründungskontext von Genese und Geltung. Bei philosophischen Erkenntnissen lässt sich häufig genauso wie bei anderen wissenschaftlichen Theorien zwischen dem Weg ihres Zustandekommens und dem Weg ihrer Begründung unterscheiden. Die Vorstellung, dass die Genese gar keine Rolle spielen und es lediglich um die Begründung, die Geltung gehen sollte, steht jedoch nicht unwidersprochen. Berühmt ist beispielsweise die Kritik Friedrich Nietzsches (1844–1900) an geltungsbasierten Vorstellungen von Moral. Für ihn entscheidet sich, vereinfacht gesagt, der Wert eines moralischen Urteils an seiner Genese: daran, welche Art von Person auf welche Weise und mit welchem geschichtlichen Hintergrund zu diesem Urteil gekommen ist.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

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