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Warkus‘ Welt: Was eine Wissenschaft ausmacht

Während man in Biologie und Physik stolz drauf ist, Wissenschaft zu betreiben, betont man in Philosophie oder BWL mitunter, dies nicht zu tun. Aber wo verläuft die Grenze? Eine Kolumne.
Laborgeräte - auch ihr Material kann manchmal wichtig sein
Reagenzgläser und komplizierte Laborapparaturen: So kann Wissenschaft aussehen – muss sie aber nicht.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Vor einigen Jahren bekam ich die Gelegenheit, sehr günstig an einem BWL-Crashkurs der Hochschule Köln teilzunehmen. Dort habe ich jede Menge gelernt – nicht nur über die Grundlagen von Betriebswirtschaftslehre, sondern auch einiges darüber, wie die in dieser Disziplin Tätigen sich selbst und ihr Fach sehen. Ein Dozent erklärte uns, die Betriebswirtschaftslehre sei entgegen landläufiger Vorstellung keine Naturwissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft. Seine Kollegin erwähnte später nebenbei, vielen im Fach sei es wichtig zu betonen, die Wirtschaftslehre sei eben eine Lehre und keine Wissenschaft. Zehn Jahre zuvor war ich einmal als junger Philosophiestudent Tutor bei einem Dozenten gewesen, der in seiner Einführungsveranstaltung ebenfalls betont hatte, die Philosophie sei keine Wissenschaft, und vor allem sei sie keine Geisteswissenschaft.

Die zweite Aussage halte ich für falsch. Ich bin mir sogar recht sicher, dass die Philosophie sehr wohl eine Geisteswissenschaft ist. Insgesamt ist es aber bemerkenswert, dass es so scheinbar kontraintuitive Einschätzungen dazu gibt, wo Fächer wie BWL und Philosophie im Schema der Wissenschaften einzuordnen sind.

Anhand welcher Kriterien lassen sich die Geisteswissenschaften von anderen Disziplinen abgrenzen? Man kann heute den Eindruck bekommen, dass der Begriff eine Art Restkategorie bezeichnet. Es gibt »MINT-Fächer« (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) und dann halt auch noch irgendetwas anderes und dafür braucht man einen Namen. Die große Frage ist aber: Gibt es etwas, was dieses »irgendetwas anderes« gemeinsam hat, außer der Nichtzugehörigkeit zu MINT?

Idiographie und Nomothetik

Ein bis heute einflussreicher Vorschlag dazu wurde 1894 von dem Straßburger Philosophieprofessor Wilhelm Windelband (1848–1915) gemacht. Er sprach erstmals von einer Abgrenzung zwischen »nomothetischen« und »idiographischen« Wissenschaften. Ein »Nomothet« ist im Altgriechischen ein Gesetzgeber; »idiographisch« heißt so viel wie »das Eigene, Eigentümliche beschreibend«. Windelband zufolge gibt es in den Wissenschaften, die sich mit äußeren Gegenständen beschäftigen und nicht nur mit sich selbst, zwei grundlegend verschiedene Herangehensweisen: Die nomothetischen Wissenschaften versuchen, allgemein und überzeitlich gültige Gesetze aufzustellen. Die idiographischen Wissenschaften hingegen möchten einzelne und einzigartige Gegenstände an einem Ort und zu einem Zeitpunkt möglichst umfassend beschreiben. Nomothetisch ist beispielsweise die Physik, die aus Versuchsreihen quantitative Gesetze ableitet, idiographisch sind etwa Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, in denen sich ganze Regale mit Literatur zu einer einzigen Skulptur oder einem einzigen Roman füllen lassen.

Der Vorteil dieser Unterscheidung ist, dass sie anerkennt, dass es unterschiedliche gleichrangige Quellen wissenschaftlicher Wahrheit gibt, und damit gegen den beliebten naturwissenschaftlichen Chauvinismus wirkt, der nur experimentelle Wissenschaft als solche gelten lässt. Ein Nachteil ist, dass die Unterscheidung traditionelle Disziplinen in der Mitte durchsägt. Die Sprachwissenschaft betreibt zum Beispiel sowohl Idiographie, wenn sie möglichst genau herausfindet und beschreibt, wie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gesprochen wurde, als auch Nomothetik, wenn sie allgemeine Gesetze der Sprachentwicklung oder des Spracherwerbs ermittelt. Windelband selbst merkt 1894 an, dass die beiden Begriffe nicht unterschiedliche Gegenstände, sondern eher Methoden des Zugangs bezeichnen: In seinem Vortrag erläutert er, dass die Biologie idiographisch vorgeht, wenn sie Evolutionsgeschichte betreibt, aber nomothetisch, wenn sie das Leben auf der Erde systematisch beschreibt. Insgesamt scheint es eine Sache des Bezugspunkts und der Forschungsziele zu sein, welcher Kategorie man eine wissenschaftliche Tätigkeit zuordnet.

Die Philosophie klammert Windelband übrigens ebenso wie die Mathematik von vornherein aus, da es nicht ihre Sache ist, äußere Gegenstände zu beschreiben. In seinen Worten sind sie »nicht unmittelbar auf die Erkenntnis von etwas in der Erfahrung Gegebenem« ausgerichtet. Modern spricht man von Formal- oder Strukturwissenschaften.

Die Behauptung, BWL sei gar keine Wissenschaft, sondern (»nur«) eine Lehre, kann man vor diesem Hintergrund auch erläutern: Man kann argumentieren, dass es nicht die Hauptaufgabe der BWL ist, allgemeine Gesetzmäßigkeiten für oder detaillierte Einzelbeschreibungen von Wirtschaftsunternehmen zu ermitteln. Zwar kommt sie daran nicht vorbei, aber ihre primäre Aufgabe ist nicht die Produktion von Beschreibungen, sondern die von Regeln und Ratschlägen: Wer BWL studiert, will nicht lernen, wie etwas ist, sondern wie er oder sie handeln soll (als Unternehmerin oder leitender Angestellter). Analog kann man übrigens auch argumentieren, dass die Medizin keine Wissenschaft ist, sondern eine Lehrdisziplin, die sich die Wissenschaft zu Nutze macht. Das Medizinstudium ist kein bloßes Humanbiologiestudium – es soll nicht primär Fakten vermitteln, sondern dazu ausbilden, kranke und verletzte Menschen zu heilen.

Damit ist vermutlich auch klar, wie man auf die Idee kommen kann, die Philosophie sei ebenfalls keine Wissenschaft. Es hat eine große Tradition, eine philosophische Ausbildung nicht primär als Vermitteln von Fakten und Wissen zu sehen, sondern als Erziehung zu einer bestimmten Weise des Lebens und Handelns. Nur beißt sich, wenn man diese Gedanken fortführt, die Katze in den Schwanz, da sich jedes Wissen auch in Form von Handlungsvorschriften bringen lässt, jede Vermittlung von Wissen auch als Ausbildung zu einer bestimmten Praxis gesehen werden kann und auch Angehörige naturwissenschaftlicher Disziplinen häufig durch ihr Fach in ihrem Lebensstil geprägt sind. Letztlich bleibt die Klassifikation der Wissenschaften etwas, an dem sich verschiedene Disziplinen abarbeiten, um ihr eigenes Selbstverständnis auszudrücken. Was aber in der Praxis wie einzuordnen ist, bleibt eine Sache der Tradition und der Türschilder in den Hochschulen.

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