Warkus' Welt: Das erklärt alles!
Wenn man sehr grundsätzlich werden will, dann kann man die gesamte Wirklichkeit in zwei Kategorien einteilen: das, was es gibt – Gegenstände –, und das, was geschieht – Ereignisse. Die große Frage, die man zu einem Gegenstand stellen kann, ist: Was ist das? Und die große Frage zu einem Ereignis: Warum geschieht das? Wissenschaft ist letztlich der organisierte Versuch, solche Fragen zu ganz unterschiedlichen Arten von Gegenständen und Ereignissen zu beantworten. Eine Antwort auf eine Frage dazu, warum ein Ereignis geschehen ist, nennt man Erklärung.
Obligatorischer Hinweis: Alle von mir in den vorangegangenen Sätzen aufgestellten Behauptungen werden von irgendwem bestritten. Das ist das Schöne an der Philosophie.
Damit, dass sie als Antwort auf bestimmte Arten von Fragen gegeben werden, ist aber noch nicht gesagt, was Erklärungen eigentlich sind. Prinzipiell kann man ja auf eine Frage mit beliebigem Unsinn antworten. Das geordnete Nachdenken über Erklärungen in der philosophischen Wissenschaftstheorie hat nun bestimmte Kriterien dafür hervorgebracht, wie eine Erklärung beschaffen sein sollte.
Nach einem vor allem von Carl Gustav Hempel (1905–1997) etablierten Modell hat eine Erklärung stets eine argumentative Struktur: Mindestens eine Regel und mindestens eine Bedingung kommt darin vor, das zu erklärende Ereignis ist Gegenstand der Schlussfolgerung. So könnte man die Frage »Warum läuft meine Nase?« in diesem Format etwa folgendermaßen beantworten:
Bedingung: Ich bin gerade aus der Kälte ins warme Zimmer gekommen.
Regel: Kommen Menschen aus der Kälte ins warme Zimmer, läuft häufig ihre Nase.
Schlussfolgerung: Meine Nase läuft.
Die Regeln, die in solchen Erklärungen vorkommen, können entweder allgemeine, ausnahmslos gültige Gesetze oder statistische Korrelationen sein.
Mehr oder weniger hilfreiche Erklärungen
Nun ist es bekanntlich so, dass man auf die Frage, warum irgendetwas geschehen sei, unterschiedliche Erklärungen geben kann, die sich gegenseitig nicht ausschließen (und zwar auch, wenn man das beschriebene argumentative Format verlangt). Die Frage »Warum zeigt meine Digitaluhr 17:32 an?« lässt sich lakonisch damit beantworten, dass die Uhr eben noch 17:31 angezeigt hat und jede funktionierende Uhr, nachdem sie auf 17:31 geschaltet hat, 60 Sekunden zählt und dann eine Minute weiterschaltet.
Sie lässt sich aber auch damit beantworten, dass die Ziffern 17:32 in einem bestimmten, auf Grund des Sechzigersystems, der Zonenzeit und verschiedener andere Konventionen nicht ganz einfach zu beschreibenden Zusammenhang zu einer bestimmten Winkelstellung des Planeten Erde auf seiner Rotationsachse steht. Oder damit, dass bestimmte Displayelemente, die die Ziffern 17:32 bilden, unter Strom stehen, und andere nicht.
Ursprünglich mit dem Hintergrund, eine bessere Erklärungstheorie für die Sozialwissenschaften zu schaffen, hat der amerikanische Philosoph, Mathematiker und Kardiologe Alan Garfinkel (*1945) das Konzept entwickelt, dass Erklärungen Antworten nicht einfach nur auf Warum-Fragen sind. Sondern sie sind Antworten auf Warum-Fragen, die mit Vorbedingungen und einem bestimmten Raum von Antwortoptionen oder »Kontrastfolien« ausgestattet sind. Die Frage »Warum zeigt die Uhr 17:32 an und nicht 83:72, obwohl sie es könnte« verlangt nach einer anderen Erklärung als »Warum zeigt die Uhr 17:32 an und nicht 17:20, obwohl im Internet steht, dass die wahre Ortszeit an meinem Standort 17:20 ist?«.
Was macht eine gute Erklärung aus?
Im Fall der Digitaluhr lassen sich nun alle genannten Erklärungen – und sogar die Rolle bewusster menschlicher Akteure darin, denn irgendjemand muss die Uhr ja gestellt haben – unter einen Hut bringen. Man könnte ein sehr langes und umständliches Argument aus vielen Regeln und Prämissen formulieren, das alle genannten Zusammenhänge einschließt und die unterschiedlich kontextualisierten Fragen beantwortet.
Spätestens dort, wo komplexere soziale Verhältnisse ins Spiel kommen, wird es schwieriger. Die Philosophin Sally Haslanger, die sich umfänglich auf Garfinkel bezieht, bringt an einer Stelle das Beispiel von Lisa, die sich nach Geburt ihres Kindes entscheidet, ihren Arbeitsvertrag zu kündigen, während ihr Ehemann Larry weiter berufstätig bleibt. Auf die Frage »Warum hat Lisa ihre Stelle gekündigt (statt weiterzuarbeiten)?« kann man schlicht antworten, dass sie der Meinung war, dass es das Beste für das Kind sei. Man kann ebenso die ökonomischen Strukturen berücksichtigen, etwa, dass Frauen für gleiche Arbeit tendenziell schlechter bezahlt werden, was die Entscheidung beeinflusst haben kann.
Man könnte auch fragen: »Warum hat Lisa ihre Stelle gekündigt (und nicht Larry)?« und antworten, dass Larry darauf einfach keine Lust hatte. Das könnte schlicht stimmen, aber wiederum damit zu tun haben, dass Larry weiß, dass seinen Beruf aufzugeben bedeuten würde, Einkommen einzubüßen, das er beispielsweise gerne nutzt, um damit Reisen an seinen Lieblingsort zu finanzieren.
Inwieweit man verschiedene Erklärungen dieser Art zusammenzubringen versucht (und welche), hat nicht nur mit Plausibilitäten und Korrelationen zu tun, sondern auch damit, welche Rolle man dem freien menschlichen Willen zuschreibt und letztlich, unter welche moralischen Pflichten man Menschen gestellt sieht. Wie so oft in der Philosophie ist es bei dem Problem, was eigentlich eine (gute) Erklärung ist, so, dass die Betrachtung, auch wenn sie bei sehr abstrakten und »menschenfernen« Unterscheidungen ihren Anfang nimmt, früher oder später bei Fragen des Menschenbildes und der Ethik herauskommt.
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