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Warkus' Welt: Was will das Volk?

Nach der Thüringen-Wahl beanspruchen sowohl die AfD als auch die CDU das Mandat zur Regierungsbildung für sich. Unser Philosophie-Kolumnist fragt: Wer hat den Auftrag denn nun – und wer erteilt ihn überhaupt?
AfD-Chefin Alice Weidel im Vordergrund und ihr Kollege Tino Chrupalla im Hintergrund bei einer Pressekonferenz
»Der Wähler hat uns in Thüringen und Sachsen einen klaren Regierungsauftrag gegeben«, so die AfD-Kovorsitzende Alice Weidel nach den Landtagswahlen vom 1. September. Auf der Pressekonferenz am Tag nach dem Urnengang warnte sie zudem davor, diesen Wählerauftrag zu ignorieren.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

In Belgien ist die Sache klar. Nach Wahlen zum nationalen Parlament führt der König Verhandlungen mit verschiedenen Amtsträgern und den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern. Danach ernennt er einen so genannten »Formateur«, was man vielleicht am besten mit Regierungsbildner übersetzt. Er hat die Aufgabe, eine mehrheitsfähige Regierung zusammenzustellen. In der Regel erfordert das, eine Koalition auszuhandeln. Wenn alles normal läuft, wird der Formateur anschließend selbst zum Premierminister gewählt. Man kann also sagen, dass er vom König den Regierungsauftrag erhalten hat.

In Deutschland gibt es keinen König und auch keinen offiziellen Auftrag zur Regierungsbildung. Der Bundeskanzler wird zwar auf Vorschlag des Bundespräsidenten gewählt, aber dies betrifft nur den ersten Wahlgang und stellt nicht den Anfang der Regierungsbildung dar, sondern ihr Ende. Dennoch ist noch am Abend von Bundes- und Landtagswahlen immer wieder die Rede davon, dass diese oder jene Partei den Regierungsauftrag erhalten habe. In Thüringen beispielsweise reklamieren sowohl die AfD als auch die CDU diesen Auftrag für sich. Wer hat ihn denn nun?

Das Erteilen eines Auftrags, wie wir es aus dem Alltag kennen, ist eine absichtliche Handlung – sei es durch Zuruf (»Noch ein Bier!«), durch Handschlag, schriftlich oder per Mausklick. Es gibt einen klaren Urheber, der auch die Verantwortung für die Folgen trägt. Ihm kann man eine Intention zuschreiben. Daher ist die Rede vom Regierungsauftrag in Belgien auch so unproblematisch: Der König unterzeichnet irgendetwas, vielleicht proklamiert er auch mündlich, wer die Regierung bilden soll, und/oder schüttelt ihm die Hand – die Details kenne ich nicht. Wenn wir jetzt aber davon sprechen, einem Thüringer Landespolitiker sei ein Auftrag erteilt – wem kann man die Intention zuschreiben? Gern ist an dieser Stelle von »dem Wähler« oder »dem Volk« die Rede. Doch wer ist das?

Kollektive Intentionalität: Mehr als die Summe aller Einzelintentionen

In der Philosophie hat sich ab zirka 1990 der Begriff »kollektive Intentionalität« für Fragen wie diese herausgebildet. Wenn ich meinem Kollegen zufällig nach Feierabend in der Eisdiele begegne, weil wir beide unabhängig voneinander die Idee hatten, ein Eis zu essen, ist das etwas anderes, als wenn wir uns vornehmen, nach Feierabend zusammen Eis essen zu gehen. Eine kollektive Intention scheint also mehr zu sein als die bloße Summe individueller Intentionen.

Folgt man dem Verständnis des US-amerikanischen Philosophen John Searle (* 1932), dann ist kollektive Intentionalität etwas, was sogar älter ist als die Menschheit selbst, weil bereits Tiere kollektive Intentionen haben können. Als Mensch gemeinsam im Orchester eine Sinfonie zu spielen, wäre dann im Kern vergleichbar damit, als Hyäne im Rudel gemeinsam ein Gnu zu jagen. Eine Intention dieser Art kann man aber bei einer Landtagswahl schwerlich feststellen, unter anderem, da mit den Kreuzchen recht unterschiedliche Zwecke beabsichtigt sein können: über den Ministerpräsidenten bestimmen, eine Regierungsbeteiligung einer bestimmten Partei befördern oder verhindern, den Wiedereinzug einer Oppositionspartei sichern …

Im politischen Denken haben Ideen von kollektiver Intentionalität eine lange Tradition. Bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), einem der einflussreichsten politischen Philosophen aller Zeiten, taucht der Begriff des Gemeinwillens (volonté générale) auf, den er klar abgrenzt vom Willen aller (volonté de tous), der bloßen Summe der individuellen Willen. Es gibt verschiedene Lesarten dieser Unterscheidung, da Rousseau selbst sich nicht immer ganz klar ausdrückte. In jedem Fall aber soll in einem demokratischen Idealzustand der Wille aller sich mit dem Gemeinwillen decken, weil tugendhafte, gebildete Bürger in einer gerechten Gesellschaft fähig sind, stets zu erkennen, wann sie den Gemeinwillen ihrem eigenen individuellen Willen überordnen müssen. In einer solchen idealen Gesellschaft leben wir bei allen Vorzügen der bundesrepublikanischen Demokratie jedoch gewiss noch nicht.

In totalitären Systemen gibt es den Kunstgriff, ein bestimmtes Abstimmungsverhalten mit der Zugehörigkeit zum Volk selbst gleichzusetzen: Wer den Diktator nicht wählt, schließt sich selbst aus der Gemeinschaft aus. Durch diesen Kniff ist der angebliche Gemeinwille praktischerweise 100-prozentig identisch mit dem Willen aller – und natürlich mit dem des Diktators. Diese Lösung steht in einem pluralistischen, liberalen Staatswesen aus guten Gründen aber nicht zur Verfügung.

Wie man es auch dreht und wendet: Dem Volk zu unterstellen, das Ergebnis einer Parlamentswahl in der real existierenden repräsentativen Demokratie drücke einen bestimmten intentionalen Auftrag aus, ist problematisch. Mein persönlicher Vorschlag wäre daher: gar nicht vom »Regierungsauftrag« reden, sondern ohne diese Verbrämung tun, was man ohnehin tun muss: sich daran machen, eine Mehrheit zu finden.

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