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Warkus' Welt: Zwischen Rationalität und Sinnlichkeit

In gewisser Hinsicht sind Menschen geradezu biologische Denk- und Problemlösungsmaschinen. Andererseits können sie aber auch herrlich irrational sein. Passt das zusammen?
Frau mit zwei Gesichtern

Wir Menschen sind gut im Lernen, im (einigermaßen) objektiven Wahrnehmen und im rationalen Denken. Mit der entsprechenden Schulung können Menschen gehörte Musik zu Papier bringen, halbwegs maßstäbliche Karten von Landschaften aus dem Gedächtnis zeichnen, fünfstellige Zahlen im Kopf multiplizieren und vorhersagen, was komplexe Mechanismen tun, wenn man sie an einer Stelle anschubst. Fachkräfte in der Kieferchirurgie oder der Flugzeugwartung führen dutzende Male pro Woche ganz ähnliche, sich stets wiederholende Tätigkeiten aus, präzise und ohne nennenswerte Fehler zu machen.

Gleichzeitig sind Menschen aber auch erstaunlich gut darin, irrational und subjektiv zu sein. Manchmal stehen wir mit dem falschen Bein auf, und die ganze Welt um uns herum fühlt sich komisch an. Uns bricht der Schweiß aus, weil wir kurz meinen, wir hätten einen Termin vergessen, und dann werden wir das Adrenalin stundenlang nicht mehr los, obwohl gar nichts Schlimmes passiert ist. Wir erblicken eine attraktive Person auf der anderen Straßenseite, bekommen weiche Knie und heiße Ohren. Wir können den ganzen Nachmittag nicht vernünftig arbeiten, weil es von draußen irgendwie nach Essen riecht. Wir sehen einen harmlosen Film und müssen weinen, weil er uns an jemanden erinnert.

Wir sind also einerseits sehr rationale Wesen – in gewisser Hinsicht sind wir geradezu biologische Denk- und Problemlösungsmaschinen. Andererseits sind wir ebenso sinnliche Wesen, die einen Leib mit dazugehörigen Empfindungen, außerdem Emotionen und Gefühle haben. Eine große und offene philosophische Frage ist es, inwieweit diese beiden Aspekte des Menschseins sich trennen lassen und sogar getrennt werden sollten.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Der Satiriker Leo Fischer hat 2016 einmal geschrieben: »Du bist ein Gewitter in einem Fettklumpen, der von einem deformierten Fisch balanciert wird.« Das ist eine Weise, es zu sehen: »Ich«, das, was mich eigentlich ausmacht, sind bloß die neuronalen Vorgänge in meinem Gehirn, der Körper ist nur die zufällige biologische Grundlage dafür. Es gibt große, zum Beispiel auf die antike philosophische Schule der Stoiker zurückreichende Traditionen, die daher dazu aufrufen, alles Irrationale zu ignorieren und aus dem Geist zu verbannen.

Eine untrennbare Verbindung

Man kann aber auch beide Aspekte des Menschseins als untrennbar miteinander verbunden betrachten. Das ist zugegebenermaßen nicht immer ganz einfach. Warum sollte die Tatsache, dass eine Person von Eis oder kalten Getränken sehr schnell Kopfschmerzen bekommt oder zu äußerst heftigem Liebeskummer neigt, sich nicht davon trennen lassen, dass dieselbe Person quadratische Gleichungen im Kopf lösen oder jedes Möbelstück ohne Anleitung aufbauen kann?

Spätestens in den vergangenen Jahrzehnten ist es in der Philosophie salonfähig geworden, zumindest Emotionen wie Angst oder Zorn auch eine kognitive Funktion zuzugestehen. So können sie beispielsweise unsere Aufmerksamkeit lenken: Die Angst vor einem Hund, der knurrend auf einen zuspringt, sorgt dafür, dass man sich nicht von ihm ablenken lässt. Aus der Wissenschaftsgeschichte wissen wir zudem, dass bestimmte Formen von Rationalität auch kreative Aspekte haben und durch Emotionalität und ausgelebte leibliche Eigenheiten beflügelt werden können. Es gibt in Wissenschaft und Kunst zwar Beispiele für asketisches, mönchisches Leben, aber mindestens genauso viele Gegenbeispiele für hochemotionale Denkerinnen und Denker sowie schwelgende »Genussmenschen«.

Ein popkulturelles Echo dieser Frage ist der Konflikt zwischen dem stoischen Vulkanier Spock und dem emotional-sinnlichen Menschen Kirk in der Sciencefiction-Serie »Star Trek«, der letztlich der projizierte Konflikt zwischen zwei verschiedenen Sichtweisen auf das Menschsein ist. Denn: Echte Außerirdische könnten uns in ihrer Art, der Welt um sie herum leiblich und emotional zu begegnen, eventuell so fremd sein, dass wir gar nicht mehr in der Lage wären, sie überhaupt auf dieser Skala zwischen Rationalität und Sinnlichkeit einzuordnen.

Dies ist übrigens meine 100. Kolumne an dieser Stelle. Die nächste Kolumne würde ich deshalb gerne einem Wunschthema widmen. Welche philosophischen Fragen treiben Sie gerade um? Worüber möchten Sie mehr lesen? Teilen Sie Ihre Wünsche über das Kommentarfeld mit!

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