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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Warum das perfekte Wahlsystem nicht existiert

Wahlen scheinen einfach: Anhand der Stimmzettel geht eine Partei als Sieger hervor. Aber je nachdem, wie man die Stimmen auswertet, kommen völlig verschiedene Ergebnisse dabei heraus.
Mehrere Hände mit Wahlzetteln an einer Urne
Die Wahl fällt nicht immer leicht – die Auszählung aber auch nicht.

Zugegeben: Bei der letzten Wahl fiel mir die Entscheidung für eine Partei erstaunlich schwer. Politik hat viele Facetten, die über bloße Wahlprogramme und Parteizugehörigkeiten hinausgehen. Vieles hängt auch von den Persönlichkeiten der Politikerinnen und Politiker sowie von nicht vorhersehbaren Ereignissen ab, etwa Umweltkatastrophen oder Kriegen. Beim Urnengang ist mathematische Kenntnis daher nicht wirklich hilfreich. Beim Ausarbeiten eines Wahlsystems, das die individuellen Vorlieben der Bevölkerung möglichst passend in einem Gruppenergebnis wiedergibt, kann Mathematik hingegen helfen. Doch das ist gar nicht so einfach.

Der US-amerkanische Ökonom Kenneth Arrow (1921–2017) beschäftigte sich bereits in seiner Doktorarbeit, die 1951 erschien, mit diesem Problem. Anders als wir es bei politischen Wahlen gewohnt sind, betrachtete er allerdings kein System, bei dem man bloß ein Kästchen ankreuzt, sondern eins, bei dem man gleich eine ganze Rangfolge erstellt: Haben Sie sich nie gewünscht, die Parteien ihrer Präferenz nach zu ordnen? Am liebsten haben Sie Partei B, gleich darauf folgt Partei D – Partei A mögen Sie hingegen gar nicht und schieben sie deshalb auf den letzten Platz. Arrow stellte sich die Frage, wie man aus diesen Informationen eine möglichst geeignete Gruppenauswahl treffen kann. Damit gilt er als einer der Gründer der Sozialwahltheorie, was ihm 1972 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften einbrachte.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Um zu verdeutlichen, warum die Aufgabe so schwierig ist, kann man fünf plausible Beispiele heranziehen, um ein und dieselbe Wahl auszuwerten. Man stelle sich dazu fünf Parteien vor(A, B, C, D und E), die von 55 Personen gewählt werden. Diese geben eine Rangfolge ab und scheinen sich in ihren Vorlieben zunächst recht ähnlich: Obwohl es theoretisch 5! = 120 Möglichkeiten gibt, die fünf Parteien zu ordnen, verteilen sich die 55 Stimmen in diesem Beispiel auf nur sechs Reihenfolgen:

Da man die individuellen Wünsche der einzelnen Bürgerinnen und Bürger kennt, könnte man meinen, dass es einfach ist, eine optimale Rangordnung der Parteien zu finden. Doch wie wir gleich sehen werden, ist das ein Trugschluss. Je nachdem, welches System man zur Auszählung wählt, gehen verschiedene Parteien als Sieger daraus hervor.

Man kann dazu mit der einfachsten Methode beginnen: Gewonnen hat die Partei, die am häufigsten eine Erstplatzierung erhält. Das wäre in dem genannten Beispiel Partei A, die insgesamt 18-mal auf Platz eins landet. Das entspricht einer Mehrheitsabstimmung – man hätte in diesem Fall gar keine Rangfolge von den Wahlberechtigten benötigt. Sie hätten auch einfach nur ein Kreuzchen, statt einer 1 setzen und die anderen Felder frei lassen können. Das Wahlergebnis lautet dann:

Viele von Ihnen sehen wahrscheinlich bereits das Problem: Auch wenn Partei A die meisten Erstplatzierungen erhält, ist sie nicht bei allen Wählerinnen und Wählern beliebt. Im Gegenteil, sie polarisiert sehr. In der Wahlverteilung taucht sie bloß an erster oder letzter Stelle auf. Und wenn man die Stimmen zählt, gibt es weitaus mehr Personen, die die Partei A strikt ablehnen, als dass sie sie befürworten.

Etwas gerechter erscheint es daher, stattdessen eine Stichwahl zwischen den beiden Parteien abzuhalten, welche die meisten Erstplatzierungen erhalten haben. Das sind in diesem Fall Partei A und Partei B. Ein ähnliches System wird beispielsweise bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich herangezogen. Eigentlich würde man also zu einem zweiten Urnengang aufrufen, doch da wir die Rangfolge der einzelnen Wähler kennen, kann man darauf verzichten. Man geht davon aus, dass jene Bürger, die A beziehungsweise B an erster Stelle gesetzt hatten, es immer noch tun. Für die übrigen Stimmen (mit einer anderen Partei an erster Stelle) muss man nur noch ermitteln, ob sie A oder B bevorzugen. Weil Partei A bis auf die 18 Erstplatzierungen stets auf dem letzten Platz landet, erntet B alle übrigen Stimmen (37 Stück) und gewinnt daher die Stichwahl. Diese Wahlmethode verhindert also, dass eine allzu polarisierende Partei gewinnt.

Nun kann man einwenden, dass eine Stichwahl zwischen den ersten beiden Erstplatzierten alle anderen Parteien unberücksichtigt lässt. Fairer wäre es daher, zunächst die »unbeliebteste« Partei (jene, mit den wenigsten Erstplatzierungen) zu eliminieren und dann die Stimmen auf die vier übrigen neu zu verteilen. Wenn es danach keine absolute Mehrheit gibt, wiederholt man den Vorgang: Man streicht die Partei mit den wenigsten Erstplatzierungen, wertet die Stimmen neu aus und macht so lange weiter, bis ein eindeutiger Sieger hervorgeht. Diese »integrierte Stichwahl« wird unter anderem bei der Wahl von Abgeordneten in Australien und Irland herangezogen.

In unserem Beispiel eliminiert man also zuerst die Partei E. Die Stimmen jener Bürgerinnen und Bürger, die E an erster Stelle gewählt hatten, müssen umverteilt werden. Dazu addiert man ihre Zweitplatzierungen zu den entsprechenden Parteien, die übrig sind (in diesem Fall B und C). Weil danach keine der Parteien über eine absolute Mehrheit verfügt, streicht man die nächste Partei von der Liste: D. Wieder verteilt man die Stimmen um, die Partei C zugutekommen. Schließlich muss B von der Liste, woraufhin Partei C die Wahl gewinnt.

Wem diese Methode kompliziert vorkommt, kann auch auf ein anderes Wahlsystem zurückgreifen, das häufig beim Sport verwendet wird: die so genannte Borda-Methode. Dafür gibt man den Parteien je nach Platzierung Punkte und rechnet diese dann zusammen. Auf diese Weise hat man die Rangfolgen aller Bürger berücksichtigt. Eine Erstplatzierung kann in unserem Beispiel vier Punkte liefern, eine Zweitplatzierung drei und so weiter. In diesem Fall geht Partei D als Sieger hervor.

Tatsächlich gibt es noch zahlreiche weitere Auszählungsformen, von der ich gerne noch die Condorcet-Methode vorstellen möchte. Hierbei stellt man stets zwei Parteien einander gegenüber und ermittelt, welche bei den Wählerinnen und Wählern beliebter ist. Die Partei, die am meisten Siege bei den Duellen davonträgt, gewinnt die Wahl. Eine abgewandelte Version des Ansatzes nutzt beispielsweise die deutsche Piratenpartei, um ihre Abgeordneten zu wählen. Wendet man dieses Verfahren auf unser Beispiel an, gewinnt Partei E.

Fünf verschiedene Wahlsysteme bringen also fünf unterschiedliche Sieger hervor. Und das Schlimmste: Alle Methoden zum Auszählen klingen vernünftig. Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird mir die nächste Wahl sicher nicht leichter fallen. Glücklicherweise muss man in Deutschland aber keine Rangfolge erstellen. Das vereinfacht die Situation deutlich, oder?

Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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