Warkus' Welt: Warum der Brand von Notre-Dame so betroffen macht
Vergangene Woche fing das Dach von Notre-Dame de Paris Feuer. Die Kirche wurde durch den Großbrand erheblich in Mitleidenschaft gezogen, ist als Bauwerk aber weitgehend erhalten geblieben. In den sozialen Medien rief das Ereignis dennoch heftige Reaktionen hervor: Manche Menschen beschworen tiefstmögliche Trauer und forderten größtmögliche Anteilnahme, andere feierten die brennende Kirche hingegen sogar.
All dies ist nur erklärbar, wenn ein Gebäude irgendwie mehr sein kann als »nur« ein Gebäude. Allein an der Bedeutung der Kathedrale als »Gotteshaus« kann es nicht liegen: Es gibt in unserer Gesellschaft (wie vermutlich fast überall) inzwischen den Konsens, dass Gott ein Gebäude nicht buchstäblich bewohnt und von physischem Schaden an einem Gebäude auch nicht angetastet wird. Und auch der christliche Anteil der Bevölkerung glaubt vermutlich nicht daran, dass der Brand eine übernatürliche Substanz beschädigt haben könnte.
Wenn der Brandschaden an Notre-Dame uns mehr berührt als zum Beispiel ein Feuer in einem Holzlager, dann mag dies zunächst daran liegen, dass das Holzlager leichter zu ersetzen ist. So hieß es etwa in den vergangenen Tagen oft, der Dachstuhl von Notre-Dame ließe sich heute mangels ausreichend starker Eichen gar nicht mehr originalgetreu rekonstruieren. Doch selbst wenn irgendwo ein Lager mit 3000 unersetzlichen starken Eichen abgebrannt wäre, wäre dies vermutlich kein Thema für die Abendnachrichten gewesen. Dass der Brand von Notre-Dame so heftige Reaktionen hervorgerufen hat, ist sicherlich weniger dem geschuldet, was Notre-Dame ist oder war, als vielmehr dem, wofür sie steht; dem, was sie als Zeichen repräsentiert.
Ein besonderes Zeichen
Wenn wir akzeptieren, dass ein Zeichen dadurch zu Stande kommt, dass etwas für etwas anderes steht, und zwar im Zusammenhang mit etwas Drittem, das meist menschliches Handeln ist, dann ist Notre-Dame gleich in mehrerer Hinsicht ein besonderes Zeichen. Zunächst einmal als Bedeutungsträger selbst: Nicht nur der Dachstuhl, der seit dem Mittelalter überdauert hat, macht das Bauwerk als Gegenstand besonders. Als eines der meistfotografierten und am stärksten in Kulturprodukte eingegangenen gotischen Gebäude überhaupt ist die Kirche nicht mehr nur als Einzelstück vorhanden. Stattdessen gibt es eine riesige Anzahl von mehr oder minder originalgetreuen Abbildungen von ihr.
Auch im Hinblick auf die Objekte, für die sie steht, ist die Kathedrale ein besonderes Zeichen: Notre-Dame repräsentiert nicht nur die Stadt Paris, in dessen Zentrum sie sich befindet, sondern auch Frankreich, das Mittelalter, die Revolution, Napoleon, den frühen Denkmalschutz der Romantik, die romantische französische Literatur, Europa, »das Abendland«, den französischen Zentralstaat und seinen Präsidenten, das Christentum, die katholische Kirche, den spezifisch französischen Katholizismus und noch vieles mehr.
Mit Notre-Dame interagieren täglich nicht nur unzählige Touristen, es haben auch zahlreiche historische Persönlichkeiten (wie nahezu alle französischen Staatsoberhäupter seit ihrer Erbauung) und Vertreter von Hoch- und Popkultur (Victor Hugo, Rainer Maria Rilke, Disney) mit ihr interagiert. Nach einer Theorie des US-amerikanischen Mathematikers und Philosophen Charles S. Peirce kann jede Interpretation eines Zeichens selbst wieder ein Zeichen sein. So ist zum Beispiel die Disney-Verfilmung von Hugos »Der Glöckner von Notre-Dame« in der Diskussion nach dem Brand selbst zum Zeichen für eine bestimmte Sicht auf den Bau geworden.
Diese unterschiedlichen Aspekte verstärken sich dabei gegenseitig: Je mehr Interpretation, umso enger wird die Bindung an verschiedene Zeichenobjekte, je mehr Objekte, desto mehr Angriffsfläche für Interpretation bieten sie, und all das produziert miteinander immer neue und immer mehr Abbildungen von Notre-Dame sowie andere Zeichen, die auf sie verweisen. Man könnte sagen: Mit Notre-Dame hat eine Maschine zur Erzeugung von Bedeutung gebrannt und zugleich ein historisches Denkmal für die Fähigkeit des Menschen, Bedeutung mit Hilfe anderer Gegenstände zu produzieren. Kein Wunder, dass so viele aus diesem Anlass selbst etwas produzieren wollten, was irgendwie für diese Bedeutsamkeit steht – und sei es nur, das letzte Selfie aus dem Paris-Urlaub noch einmal zu posten.
Schreiben Sie uns!
4 Beiträge anzeigen