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Das Fleisch-Paradox: Warum wir Tiere essen und uns doch für gute Menschen halten

Tiere zu essen und ihre Milch zu trinken, gilt als normal und natürlich – das lernen wir schon als Kinder. Als Erwachsene erklären wir deshalb das Leid der Tiere zum notwendigen Übel. Ein Plädoyer fürs Umlernen.
Profil von einem Schwein, das durch Gitterstäbe schaut
Die meisten haben es am liebsten gut durchgebraten. (Symbolbild)

Der Tag, an dem Fiete zum ersten Mal die Sonne sieht, ist sein Todestag. Er ist sechs Monate alt und unterwegs zum Schlachthof. Er kann kaum laufen: Die Beine knicken unter seinem Gewicht ein, die Klauen sind kotverklebt, Augen und Atemwege von den stechenden Gasen der Fäkalien entzündet. Beim Verladen bekommt Fiete erstmals frische Luft. Nicht lange: Vor der Schlachtung wird er mit CO2 betäubt. 20 bis 30 Sekunden lang schnappt er nach Luft, quiekt in Todesangst. Dann wird er bewusstlos, wird kopfüber aufgehängt und abgestochen.

Das Schwein mit dem Namen Fiete ist erfunden, sein Schicksal nicht. Fietes letzte Stunden sind Standard in den Massenbetrieben. Rund 47 Millionen Schweine wurden 2022 in Deutschland geschlachtet, um aus ihnen Wurst und Würstchen, Steak und Schnitzel, Tierfutter und Gelatine zu machen. Insgesamt töteten deutsche Schlachtbetriebe in dem Jahr zirka 750 Millionen Tiere. Der Durchschnittsdeutsche isst etwa 140 Tiere im Jahr – inklusive Fischen und Meeresfrüchten, die in offiziellen Statistiken häufig unter den Tisch fallen, und auch den Tieren, die zu Tierfutter verarbeitet letztlich im menschlichen Magen landen. Dazu kommen mehr als 230 Eier und 80 Kilo Milchprodukte. Bioeier machen 14 Prozent aus, Biofleisch und Biomilch je rund 4 Prozent.

Fleisch und andere Tierprodukte stammen also überwiegend aus konventionellen Massenbetrieben. Dort leben die Tiere in der Regel auf viel zu engem Raum, ohne Rückzugsort und ohne Möglichkeit, ihre natürlichen Instinkte auszuleben. Hühner haben keinen Platz, ihre Flügel auszubreiten. Schweine haben keine Erde, in der sie wühlen können. Kühe haben nie auf einer Weide gestanden. Kaninchen haben keinen Platz zum Hoppeln und Enten kein Wasser zum Schwimmen.

Politik und Behörden versagen seit Jahrzehnten katastrophal: Die Vorschriften für die Tierindustrie sind ungenügend, Kontrollen lasch, Strafen selten. Missstände werden dokumentiert statt abgeschafft. Kennzeichnungspflichten auf Lebensmitteln sind die Ausnahme. Die Eier in Nudeln und Backwaren können – sofern es keine Bioprodukte sind – aus der schlechtesten Haltungsform stammen. Auf der Verpackung steht das in der Regel nicht, weil die Kennzeichnung nicht vorgeschrieben ist.

Auch die bekannten negativen Folgen für Klima und Umwelt genügen bislang nicht, um deutsche Regierungen zum Umbau der Landwirtschaft zu bewegen. Für ein Kilogramm Rindfleisch werden ungefähr 200-mal so viele Treibhausgase in die Atmosphäre geblasen wie für ein Kilo Kartoffeln. Krankheitserreger aus überfüllten und verdreckten Ställen gelangen mit dem Fleisch in die Küchen. Im Mai 2023 berichteten Medien über antibiotikaresistente Keime in mehr als jedem zweiten Lidl-Hühnchen. Laut der Deutschen Umwelthilfe sind rund 40 Prozent der Antibiotika in der Geflügelmast so genannte Reserveantibiotika, das letzte Mittel, wenn andere Antibiotika nicht mehr wirken. Und auch sie verlieren bereits ihre Wirkung.

Ökolandwirtschaft ist zwar meist besser. Zum Beispiel werden in der Regel deutlich weniger Antibiotika verabreicht, und die Tiere haben etwas mehr Platz. Für Milchkühe sind ein Laufhof sowie Weidegang an 120 Tagen im Jahr vorgeschrieben, für Schweine umgerechnet pro Tier ein Quadratmeter Betonboden im Freien. Bio-Fiete hätte also Sonne und frische Luft gehabt.

Doch seine Chancen auf ein gesundes langes Leben wären auch in den meisten Ökobetrieben kaum größer. Wie in der konventionellen Tierhaltung stammen auch die meisten Tiere mit Biosiegel aus Qualzuchten. Masttiere sind darauf gezüchtet, schnellstmöglich schlachtreif zu werden, Milchkühe und Legehennen darauf, möglichst viel Milch und Eier zu produzieren. Sobald sie nicht mehr die erwarteten Mengen liefern, werden auch sie geschlachtet und verarbeitet, lange vor ihrem natürlichen Tod. »Man kann nicht einfach trennen zwischen Fleischproduktion und vegetarischer Produktion«, sagt die Tierethikerin Friederike Schmitz.

Für Menschen, die sich fast ausschließlich von vegetarischen Bioprodukten ernähren, sind solche Fakten schwer zu schlucken. Für mich zum Beispiel: Seit 30 Jahren esse ich kein Fleisch, Fisch sehr selten, Eier noch seltener. Aber darüber, wie es den Kühen in der Milchwirtschaft geht, habe ich bis vor kurzem nie richtig nachgedacht. Erst bei dieser Recherche ist mir klar geworden, dass sich der Konsum von Käse und Kotelett moralisch gesehen nicht sonderlich unterscheiden.

»Es ist für Fleisch essende Menschen schwer, sich vorzustellen, dass sie damit etwas Falsches tun«Peter Singer, Ethiker

Peter Singer, Vorreiter der modernen Tierethik, appelliert an alle, sich verantwortlich zu fühlen für den eigenen Anteil am Wohl von Tier und Umwelt. »Wenn Sie in den Supermarkt gehen und diese Produkte kaufen, unterstützen Sie das. Das ist alles, was diese Industrien brauchen, um weiter existieren zu können«, schreibt der Philosoph 2020 in seinem Buch »Why vegan?«. Allerdings wollen die meisten einfach nicht wahrhaben, dass sie mit ihrem Konsum zu Leid und Schaden der Tiere beitragen. »Es ist für Fleisch essende Menschen schwer, sich vorzustellen, dass sie damit etwas Falsches tun«, erklärt Singer.

Zum einen tun es fast alle. Zum anderen gibt es ja Gesetze. »Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen«, so heißt es im deutschen Tierschutzgesetz. Nur lässt dieses Gesetz ein großes Schlupfloch, nicht nur juristisch, sondern auch moralisch. Jeder kann für sich definieren, was ein »vernünftiger Grund« ist: für den Schlachter der eigene Profit, für den Konsumenten der gute Geschmack.

Das Fleisch-Paradox

Solche Gründe haben die meisten der nicht vegan lebenden Menschen parat. Denn den wenigsten ist das Tierleid egal, oder zumindest möchten sie nicht gleichgültig erscheinen. Sie wollen deshalb aber nicht verzichten. Aus diesem Widerspruch, dem so genannten Fleisch-Paradox, entsteht kognitive Dissonanz: eine innere Spannung, die schwer auszuhalten ist.

Es gibt mehrere Strategien, damit umzugehen. Eine davon: das Fleisch gedanklich vom Leid der Tiere zu trennen, die Wirklichkeit also gar nicht erst ins Bewusstsein dringen zu lassen, kurz: das Problem zu verdrängen. Schwierig wird das spätestens dann, wenn andere Menschen ihre Ernährung umstellen. Die eigenen Gewohnheiten ebenfalls zu verändern – eine weitere Strategie – ist allerdings unbequem und gar nicht so einfach; bislang gelingt das nur einer Minderheit. Die Mehrheit passt lieber die Einstellung an das Verhalten an und erklärt das Tierleid zu einem notwendigen Übel.

»Es gibt Dinge, die wir einfach nicht wahrhaben wollen. Wir verharren lieber unberührt hinter Festungsmauern aus rigider Konsistenz«Robert Cialdini, Psychologe

Die Basis dafür liefert der Speziesismus: eine Geisteshaltung, die der eigenen Art (»Spezies«) eine Sonderstellung einräumt. Die Grundidee: Wir Menschen sind den anderen Tieren überlegen und deshalb berechtigt, sie für unsere Bedürfnisse zu benutzen.

Ein unbeliebter Einwand gegen den Speziesismus: Müssten wir dann nicht auch einer überlegenen außerirdischen Spezies das Recht zugestehen, uns zu mästen, zu melken und zu schlachten? Von einer moralisch hoch entwickelten Zivilisation würden wir zu Recht etwas anderes erhoffen. Besondere Fähigkeiten sollten ein Grund sein, höhere Maßstäbe anzulegen, nicht eine Legitimation dafür, anderen Lebewesen systematisch Leid zuzufügen.

Dass Tiere leiden, daran gibt es in der Verhaltensforschung keinen Zweifel: Säugetiere und Vögel haben Gefühle; sie empfinden Schmerzen und wollen leben. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass Schweine weniger leiden als Hunde. Wir nennen sie nur deshalb Nutztiere, damit wir sie von anderen Tieren abgrenzen und ihnen jene Rechte absprechen können, die wir so genannten Haustieren einräumen. Die Psychologin Melanie Joy bezeichnet das als Karnismus (lateinisch: carne = Fleisch): eine in unserer Kultur verankerte Ideologie, die den Fleischkonsum von bestimmten Tieren rechtfertigt. »Karnismus schützt uns vor den Gefühlen, die wir hätten, wenn wir Fleisch von einem Golden Retriever serviert bekämen«, sagt Joy.

»Karnismus schützt uns vor den Gefühlen, die wir hätten, wenn wir Fleisch von einem Golden Retriever serviert bekämen«Melanie Joy, Psychologin

Zu Karnismus gehört auch der Glaube, Fleisch zu essen sei normal, natürlich und notwendig. Joy widerspricht diesen Annahmen: Was wir als »normal« empfinden, hänge von der Kultur und den Gewohnheiten ab. »Natürlich« sei weder die Zucht noch die Massentierhaltung. Und »notwendig« sei Fleischessen auch nicht. Einem Mangel an Vitamin B12 etwa könne man vorbeugen. Notwendig wäre vielmehr, den Fleischkonsum drastisch zu reduzieren – notwendig für die Tiere, die eigene Gesundheit, die Umwelt und das Klima.

Möglich wäre das, wenn nicht die Tierindustrie gefördert würde, sondern die Umstellung auf eine ökologische pflanzliche Landwirtschaft. Fleisch ist derzeit nur deshalb billig, weil es subventioniert wird und weil die Kosten für Klima und Umwelt nicht eingepreist sind. Hier zu Lande, wo wir uns anders ernähren können, sollte es ein seltenes Gut sein.

Die letzte Bastion ist oft das Pochen auf die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Aber diese Freiheit sollte dort enden, wo andere Lebewesen dafür leiden müssen. Zu Recht darf niemand Tiere zum Vergnügen quälen. Es erscheint uns nur deshalb weniger unmoralisch, sie zum eigenen Genuss leiden zu lassen, weil es gesellschaftlich akzeptiert ist.

Und diese Norm ist zunehmend umstritten. Es gibt eine öffentliche Debatte darum, was gute Ernährung ist: gemessen an Tierwohl, Klima, Gesundheit. Erstaunlicherweise verläuft der ideologische Graben in der Regel zwischen Fleischkonsum und Vegetarismus. Eine klare Trennung zwischen den beiden Lagern existiert aber vor allem in den Köpfen. Eigentlich sitzen sie im selben Boot.

Das Käse-Paradox

Rund zehn Prozent der Deutschen leben nach eigenen Angaben vegetarisch oder weitgehend vegetarisch. Das heißt: Sie verzichten auf Fleisch, aber nicht unbedingt auf Fisch und andere tierische Produkte wie Fisch, Eier und Milch. Deshalb gilt für sie das »Käse-Paradox«, das eigentlich noch paradoxer ist als das Fleisch-Paradox. Denn sofern sie der Tiere wegen auf Fleisch verzichten, warum dann nicht auch auf Eier und Kuhmilch?

Eine typische Antwort, auch von mir: Käse schmeckt so gut. Da das für mich kein guter Grund ist, Tiere leiden zu lassen, habe ich die Schicksale von Hochleistungskühen lange erfolgreich verdrängt. Beim Gedanken an Eier sehe ich vor meinem inneren Auge ein krankes Huhn auf dem Stallboden liegen. Aber bei Quark und Käse denke ich an glückliche Kühe auf dem nahe gelegenen Ökobauernhof.

Die idyllischen Vorstellungen kommen nicht von ungefähr: Sie speisen sich aus der heilen Welt von Kinderbüchern. Erwachsene halten die Realität so lange wie möglich von Kindern fern – auch um sich selbst unangenehme Fragen zu ersparen. Denn zunächst ist Kindern das Leben eines Tieres ähnlich viel wert wie das eines Menschen, und sie finden, dass Nutztiere so behandelt werden sollten wie alle anderen Tiere. Dann werden sie sozialisiert. Sie lernen, dass es normal, natürlich, notwendig und lecker ist, bestimmte Tiere zu essen und ihre Milch zu trinken, und sie wissen noch nicht, was das für die Tiere bedeutet. Wenn sie schließlich erfahren, wie die Realität aussieht, sind sie schon befangen: Der Geschmack ist konditioniert, Gewohnheiten sind eingespielt, Speziesismus und Karnismus verinnerlicht.

Eine neue Esskultur

Wir sind dazu erzogen, emotional blind zu sein für das Leid von so genannten Nutztieren. Wir haben gelernt, nicht hinzusehen. Aber immer mehr Menschen gelingt es irgendwann doch. Vielleicht haben diese Menschen mehr Mitgefühl mit den Tieren, vielleicht sind sie offener für Neues, für unbequeme Gedanken, vielleicht auch nur schlechter im Verdrängen. Einige ändern ihr Verhalten nicht für die Tiere, sondern fürs Klima oder für die Gesundheit. Egal wofür: Jedes Tier zählt – jedes Sojawürstchen, jeder Kaffee mit Hafermilch.

Natürlich schmeckt nicht jedem alles. Aber nur wer die Alternativen ausprobiert, kann neue Vorlieben entdecken. Allmählich entstehen daraus neue Gewohnheiten, und die kognitive Dissonanz lässt nach. Und so entwickelt sich nicht nur eine neue Esskultur, sondern auch eine neue Freiheit: die Realität in den Massenbetrieben so zu sehen, wie sie ist.

So leben Tiere, bevor sie auf dem Teller landen

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