Medizin: Warum wir Krebserkrankungen neu klassifizieren müssen
Die beiden wichtigsten Therapieverfahren gegen Krebserkrankungen waren im 20. Jahrhundert die chirurgische Operation und die Bestrahlung. Bei beiden spielt es eine große Rolle, wo im Körper der jeweilige Tumor sitzt. Weil der Ort der Geschwulst so lange im Fokus stand, ist es bei Medizinern, Arzneimittelbehörden, Versicherungsunternehmen, Pharmafirmen und Erkrankten üblich geworden, Krebsleiden nach dem Organ einzuteilen, in dem der Tumor ursprünglich entstanden ist. Diese Praxis passt aber immer weniger zum Erkenntnisfortschritt in der Krebsmedizin. Insbesondere kollidiert sie mit den Entwicklungen in der modernen Präzisionsonkologie, die versucht, das molekulare Profil von Tumorzellen zu ermitteln und die Therapie gezielt darauf abzustimmen.
Im Jahr 2012 beispielsweise zeigte ein Forschungsteam um Suzanne Topalian von der Johns Hopkins University: Der Antikörper Nivolumab wirkt gegen mehrere verschiedene »Krebsarten«, wie sie nach herkömmlichen Maßstäben definiert werden. An der klinischen Studie nahmen Menschen mit Haut-, Lungen-, Prostata- und Nierenkrebs teil. Nivolumab ließ die Tumoren teils um mehr als 30 Prozent schrumpfen – weitgehend unabhängig vom Typ des Tumors, aber jeweils nur bei einer Untergruppe der Erkrankten. Die übrigen Patientinnen und Patienten profitierten von der Behandlung nicht.
Nivolumab gehört zur Klasse der Immuncheckpoint-Inhibitoren. Der Antikörper richtet sich gegen das Rezeptorprotein PD1, das auf der Oberfläche von T-Lymphozyten sitzt, welche zum Immunsystem gehören. Krebszellen »missbrauchen« dieses Protein dafür, die T-Lymphozyten zu hemmen, wodurch sie der Immunabwehr entgehen. Nivolumab bindet sich an PD1, was die Hemmung verhindert und so die Immunreaktion indirekt verstärkt. Von den 236 Krebskranken, die an der Studie von Topalian & Co. teilnahmen und deren Tumoren analysiert werden konnten, sprachen 49 positiv auf die Antikörperbehandlung an. Besonders gut wirkte die Therapie bei Personen, deren Krebszellen große Mengen des Proteins PD-L1 herstellten.
Vermeidbare Verzögerung
Der logische nächste Schritt hätte darin bestanden, klinische Studien durchzuführen, in denen die Wirkung von Nivolumab (und anderen, ähnlich wirkenden Arzneistoffen) zielgerichteter untersucht worden wäre. Sinnvoll wäre es gewesen, bevorzugt Menschen zu behandeln, deren Tumoren viel PD-L1 produzieren – unabhängig davon, wo im Körper die Wucherung stattfindet. Doch weil Krebserkrankungen immer noch in Brust-, Nieren-, Lungenkrebs und so weiter unterteilt werden, mussten die Fachleute für jede dieser Erkrankungsarten eine separate klinische Studie auflegen. Ein ungeheurer Aufwand und ein riesiger Zeitverlust.
Es verstrichen etwa zehn Jahre, in denen Millionen Krebskranke mit PD-L1 produzierenden Tumoren keine Präzisionsmedikamente dagegen bekamen
Es verstrichen etwa zehn Jahre, in denen Millionen Krebskranke mit PD-L1 produzierenden Tumoren keinen Zugriff auf Präzisionsmedikamente dagegen bekamen. Der schlichte Grund: Als sie erkrankten, war noch keine Studie für ihre jeweilige »Krebsart« durchgeführt worden. Menschen mit PD-L1-positiven Wucherungen in der Brust, in der Gebärmutter, in den Eierstöcken oder in der Vulva mussten sieben bis zehn Jahre lang warten, bis sie endlich mit PD1-Inhibitoren behandelt werden konnten. Währenddessen starben etliche von ihnen.
Ähnliches gilt für die meisten anderen Arzneistoffe, die im zurückliegenden Jahrzehnt einen klinischen Prüfungsprozess durchliefen. Dazu zählen etwa PARP-Inhibitoren, die Tumorzellen mit mutierten BRCA1- und BRCA2-Genen abtöten. Es ist inzwischen bekannt, dass diese Mutationen nicht nur bei Brustkrebs eine Rolle spielen, sondern ebenso bei weiteren »Krebsarten« nach herkömmlicher Definition (siehe »Verlorene Leben«).
Die weitaus meisten Tumorpatienten sterben an metastasierendem Krebs, bei dem sich Absiedelungen des ursprünglichen Tumors in anderen Organen bilden und dort eigenständig weiterwuchern. Solche Krebsleiden werden fast immer systemisch behandelt, das heißt mit Arzneistoffen, die in die Blutbahn gelangen und dort durch den gesamten Organismus zirkulieren. Damit solche Therapien öfter zum Erfolg führen, müssen Mediziner und Medizinerinnen dazu übergehen, Krebserkrankungen nicht mehr nach dem Entstehungsorgan des ursprünglichen Tumors zu unterteilen, sondern nach dem molekularen Profil der entarteten Zellen. Dies erfordert allerdings große Veränderungen in den Strukturen, Abläufen und Ausbildungsplänen der Onkologie.
Jahrhundertealte Gewohnheiten
Durchlaufen Arzneistoffe eine klinische Studie, in der Tumorerkrankungen nicht nach dem Ursprungsorgan klassifiziert werden, kann das zu Problemen führen. In Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern bekommen Patienten, die entsprechende Medikamente nehmen, die Kosten dafür nicht erstattet. Die meisten wissenschaftlichen Organisationen innerhalb der Onkologie, etwa die American Society of Clinical Oncology sowie die European Society of Medical Oncology (ESMO), organisieren ihre Tagungen und ihre Leitlinien entsprechend dem Herkunftsorgan von Tumoren. In den zurückliegenden zehn Jahren haben Tumorzentren und Universitäten die Onkologie zudem so weiterentwickelt, dass sie sich jetzt in organspezifische Teildisziplinen untergliedert. Kliniken haben Brustkrebs-, Lungenkrebsabteilungen und so weiter; Medizinstudenten setzen sich mit tumormedizinischen Lernmodulen in Fächern wie Gastroenterologie und Pulmonologie auseinander; und die präklinische Forschung ist genauso wie die klinische oft auf organbezogene Spezialgebiete zugeschnitten.
Das Festhalten daran, Krebserkrankungen nach dem Entstehungsorgan einzuteilen und zu behandeln, bremst den Fortschritt
Dieses Festhalten daran, Krebserkrankungen nach dem Entstehungsorgan zu klassifizieren und zu behandeln, bremst den Fortschritt in mehrfacher Hinsicht.
Erstens widerspricht es dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Die zurückliegenden zwei Jahrzehnte der Krebsforschung waren von dem Bestreben geprägt, Tumoren auf zellulärer und molekularer Ebene zu charakterisieren. Sie haben unter anderem gezeigt, dass molekulare Ereignisse, die das Entarten von Zellen vorantreiben, oft am Entstehen zahlreicher verschiedener »Krebsarten« mitwirken. Mutationen im Tumorsuppressorgen TP53 etwa sind ein Merkmal der meisten herkömmlich definierten Krebstypen. Darüber hinaus lassen sich Krebserkrankungen sehr häufig in molekular definierte Untergruppen gliedern. Einige Lungentumoren tragen Mutationen im Gen für den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR), bei anderen ist das MET-Gen mutiert, wieder andere weisen chromosomale Veränderungen auf, die das ALK-Gen betreffen – und so weiter.
Molekulare Vorgänge im Fokus
Zweitens führt die Klassifizierung von Krebserkrankungen nach dem Ursprungsorgan wie schon erwähnt dazu, dass Betroffenen der Zugang zu wirksamen Arzneien erschwert wird. Wenn es darum geht, Medikamente und Behandlungsverfahren zuzulassen, dürften molekulare Aspekte künftig an Bedeutung gewinnen. Denn immer mehr Arzneistoffe werden mit Hilfe fortschrittlicher Biotechnologieverfahren entwickelt, die gezielt molekulare Vorgänge und Strukturen in den Fokus nehmen.
Antikörper-Wirkstoff-Konjugate beispielsweise setzen sich zusammen aus Antikörpern, die spezifische Oberflächenproteine auf Krebszellen ansteuern, und giftigen Wirkstoffen, die dann in der Nähe dieser Zellen freigesetzt werden. Mit dem Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Trastuzumab-Deruxtecan ließen sich in klinischen Studien sehr gute Behandlungserfolge erzielen, unter anderem gegen Tumoren, bei denen das HER2-Gen übermäßig aktiv oder mutiert war. Und zwar unabhängig davon, welchem Organ die Wucherung entstammte.
Die herkömmliche Klassifizierung der Tumorleiden erschwert die medizinische Ausbildung und verwirrt Erkrankte sowie ihre Angehörigen
Drittens erschwert die herkömmliche Klassifizierung der Tumorleiden die medizinische Ausbildung und verwirrt Erkrankte sowie ihre Angehörigen unnötig.
Medizinstudentinnen und -studenten, ebenso wie Ärzte und Ärztinnen, müssen eine überwältigende Menge an Informationen verarbeiten und verinnerlichen. Jahr für Jahr erscheinen rund 10 000 wissenschaftliche Fachartikel, in denen die Worte »Krebs« und »randomisierte Studie« vorkommen. Krebserkrankungen nach molekularen Kriterien zu klassifizieren, würde Lernenden und Praktizierenden erheblich entgegenkommen. Sie müssten nicht mehr Unmengen klinischer Studien lesen, die für jede einzelne »Krebsart« aufgelegt wurden, da die Untersuchungen bei molekularer Unterteilung für jeweils mehrere Krebstypen übergreifend erfolgen würden. Und wer die molekularen Mechanismen kennt, die der Krankheit zu Grunde liegen, kann sich auch die Ergebnisse klinischer Studien leichter merken.
Komplexe Wechselwirkungen
Ein Beispiel: Es gibt eine ganze Familie von Enzymen namens Phosphoinositid-3-Kinasen (PI3K), die an zellulären Prozessen wie Zellwachstum und -vermehrung mitwirken. Wenn man weiß, dass diese Enzyme an der Regulierung des Blutzuckerspiegels beteiligt sind, kommt man relativ leicht darauf, dass PI3K hemmende Arzneistoffe – die zur Behandlung von Brustkrebs dienen – den Blutzucker erhöhen können. Daher sollten Menschen mit Diabetes solche Medikamente entweder nicht erhalten oder, falls sie sie verordnet bekommen, muss ihr Blutzuckerspiegel genau überwacht werden. Das ist deutlich unkomplizierter herzuleiten, als sich für jede einzelne »Krebsart« zu merken, welcher Wirkstoff bei welcher Begleiterkrankung verabreicht werden sollte oder eben nicht.
Molekularbasierte Einteilungen von Tumorerkrankungen könnten die Therapietreue der Patientinnen und Patienten verbessern
Die Einteilung von Tumorerkrankungen nach Molekülen kann zudem die Therapietreue der Patientinnen und Patienten verbessern, das heißt ihre Bereitschaft, sich an den Therapieplan zu halten. Die Tatsache, dass zwei Menschen mit derselben diagnostizierten »Krebsart« oft unterschiedliche Behandlungen bekommen, führt leicht zu Verwirrung und Missverständnissen. Klärt man sie aber über die biologischen Mechanismen auf, die ihrer Erkrankung zu Grunde liegen, verstehen sie besser, warum sich die behandelnden Fachleute für diese oder jene Therapieform entschieden haben. Natürlich sind die meisten Menschen eher mit Körperteilen als mit Gen- und Enzymbezeichnungen vertraut. Aber ein einzelner Tumorpatient ist in aller Regel nur von ein bis vier krankheitsrelevanten molekularen Veränderungen betroffen, was die Menge an Informationen begrenzt, die er verarbeiten muss. Studien aus den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben gezeigt: Die Therapietreue von HIV-Infizierten nimmt um fünf Prozent zu, wenn man ihnen erklärt, warum die Behandlung auf ihren individuellen Zustand abgestimmt werden muss – ermittelt anhand der Zahl bestimmter Immunzellen im Blut.
Auf dem Weg der Veränderung
Immerhin haben sich seit der ersten Studie mit Nivolumab im Jahr 2012 die Dinge zum Besseren gewendet, insbesondere im Hinblick auf die Zulassungsbehörden. Diese genehmigen immer häufiger Medikamente, die auf molekulare Strukturen abzielen statt auf das Ursprungsorgan einer Tumorerkrankung.
2017 ließ die US-Arzneimittelbehörde FDA den Arzneistoff Pembrolizumab zur Behandlung von Krebskranken zu, deren Tumorzellen ein defektes DNA-Mismatch-Reparatursystem besitzen – unabhängig davon, in welchem Organ der Tumor entstanden ist. 2020 entschied die Behörde, dass Pembrolizumab ebenso gegen Wucherungen eingesetzt werden kann, deren Zellen übermäßig stark mutiert sind. In den darauf folgenden Jahren erteilte die FDA mehreren weiteren Krebsmedikamenten die Zulassung, die in spezifische molekularbiologische Prozesse eingreifen.
Es ist aber noch ein viel größeres Umdenken erforderlich – sowohl bei Regulierungsbehörden anderer Länder als auch in der krebsmedizinischen Fachgemeinschaft. Um das zu erreichen, müssen wir die Dinge auf mindestens vier Feldern anders angehen als zuvor.
Leitlinien und Methoden verbessern. Regulierungsbehörden, wissenschaftliche Organisationen und Versicherungsunternehmen müssen besser definieren, welche vorklinischen und klinischen Belege erforderlich sind, um zu entscheiden: Soll die Therapie eher auf ein molekulares Merkmal abzielen oder eher auf das Organ, in dem der Tumor entstanden ist? Einige Fachgesellschaften wie die European Society of Medical Oncology (ESMO) entwickeln bereits entsprechende Leitlinien. Und die FDA erarbeitet Kriterien dafür, wann ein Medikament auf der Grundlage molekularer Marker zugelassen werden darf – unabhängig vom Ursprungsorgan des Tumors.
Leitlinien für die medizinische Praxis, die in anderen Zusammenhängen entwickelt wurden, können dabei helfen. Ein Instrument namens »Magnitude of Clinical Benefit Scale« (deutsch: Größenskala des klinischen Nutzens) ermöglicht es beispielsweise, die Wirksamkeit eines Medikaments anhand verschiedener Kriterien zu beurteilen. Jede Arznei wird danach bewertet, wie gut Betroffene in Studien darauf angesprochen haben, wie toxisch sie ist, wie sie die Überlebenszeiten beeinflusst hat und so weiter. Fachleute nutzen außerdem die »ESMO Scale for Clinical Actionability of Target« (sinngemäß: ESMO-Skala für die klinische Nutzbarkeit von Zielstrukturen), um molekulare Veränderungen im Organismus von Erkrankten daraufhin zu bewerten, wie relevant sie für den Behandlungserfolg sind.
Solche Leitlinien werden die Frage beantworten müssen, wie sich nachweisen lässt, dass ein Arzneistoff organunabhängig wirkt. Wie viele Menschen sollten beispielsweise an einer klinischen Studie zu einem Medikament teilnehmen, das gegen mehrere herkömmlich definierte Krebsarten wirkt – und wie viele Tumortypen sollten diese Personen repräsentieren? Wie kann man belegen, dass zwei verschiedene Tumorarten gleichermaßen stark auf einen Arzneistoff ansprechen?
Onkologie umstrukturieren. Den Klinikbetrieb neu zu organisieren, könnte zunächst an Tumorzentren und Universitätskliniken geschehen, da solche Einrichtungen über große einschlägige Expertise verfügen. Sie könnten Expertenteams gründen, die sich auf die von Organ und Krebsart unabhängige Auswertung molekularer Analysen konzentrieren. In der Tat haben mehrere solcher Institutionen, darunter das National PRecISion Medicine Cancer Center (PRISM) am Institut Gustave Roussy, wo wir arbeiten, solche Teams ins Leben gerufen.
Für kleine Krankenhäuser, die nicht über klinische Abteilungen mit Schwerpunkt auf systemischen Therapien verfügen, wird es schwieriger sein, diesen Ansatz zu verfolgen. Forschungsstipendien und Gastaufenthalte von Fachleuten könnten aber zum Wissenstransfer zwischen den Einrichtungen beitragen. So ließe sich das Bewusstsein dafür schärfen, dass die molekularen Prozesse, die das Krankheitsgeschehen vorantreiben, im Fokus der Krebstherapie stehen sollten.
Studium reformieren. Medizinstudenten müssen schon früh in ihrer Ausbildung ein umfassendes molekulares Verständnis der Krebsentstehung vermittelt bekommen. Dies könnte einhergehen mit der Aufgabe, Behandlungspläne zu erstellen, die auf die molekulargenetischen Triebkräfte von Tumorleiden abzielen, anstatt wie bisher Merkmale von Primärtumoren und Ergebnisse von klinischen Phase-III-Studien auswendig zu lernen.
Zugang zu molekularen Tests verbessern. Die von uns vorgeschlagene veränderte Klassifizierung von Krebserkrankungen wird nur möglich sein, wenn mehr Personen einen Zugang zu den Tests haben, die entsprechende molekulare Veränderungen aufdecken helfen.
Eine vollständige Genomsequenzierung kostet heute um die 300 Dollar, während es vor ein paar Jahren noch deutlich mehr als 1000 Dollar waren
Seit 2020 empfehlen Fachgesellschaften wie die ESMO, dass sich alle Menschen mit fortgeschrittenem Lungenkrebs einem umfassenden Gentest unterziehen sollten. Laut einer aktuellen Studie in den USA durchliefen jedoch von rund 38 000 Patienten mit solchen Erkrankungen, die ihre Diagnosen zwischen 2010 und 2018 erhalten haben, nur 22 Prozent einen entsprechenden Test. Das deckt sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen in diversen weiteren Ländern.
Um sicherzustellen, dass alle Menschen mit metastasierendem Krebs auf einen adäquaten molekularen Test zurückgreifen können, müssen die Kosten dafür gesenkt werden. Derzeit liegen sie in den USA bei etwa 3000 US-Dollar und in Europa bei rund 1000 Euro.
Allerdings fallen die Preise für solche Untersuchungen schnell: Eine vollständige Genomsequenzierung kostet heute in der Regel um die 300 Dollar, während es vor ein paar Jahren noch deutlich mehr als 1000 Dollar waren. Einige Tumorzentren entwickeln zudem Methoden, um selbst molekulare Analysen durchzuführen, so dass sie nicht auf Diagnostikunternehmen angewiesen sind. Darüber hinaus dürfte künstliche Intelligenz schon bald in der Lage sein, genetische Anomalien kostengünstig in den Daten von Routinetests zu erkennen. Derlei Innovationen könnten molekulare Testverfahren umfassend verfügbar machen – selbst in Ländern mit einem mittleren oder niedrigen Durchschnittseinkommen.
Die personalisierte Medizin im Blick
In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird es voraussichtlich immer besser gelingen, riesige Mengen von Informationen zu erheben, zu verarbeiten und in umfassende Charakterisierungen von Krebserkrankungen einfließen zu lassen. Jede einzelne Patientin und jeder einzelne Patient erhielte damit eine individuelle Diagnose. Diese würde zahlreiche Dinge berücksichtigen: neben dem Ursprungsorgan des Primärtumors, das manchmal durchaus therapierelevant ist, die Anzahl und Größe sämtlicher (weiterer) Tumoren im Körper sowie der Grad ihrer Aggressivität, gemessen anhand der Expressionswerte bestimmter Gene. Außerdem die Sequenz der Keimbahn-DNA, die Rückschlüsse erlaubt auf die Empfindlichkeit gegenüber Medikamenten oder das Risiko schädlicher Nebenwirkungen. Sowie zahlreiche Informationen zum allgemeinen Gesundheitszustand, erfasst etwa anhand von Müdigkeit, Gewichtsverlust und so weiter.
Die Klassifizierung von Krebserkrankungen nach ihren molekularen Merkmalen würde Millionen Erkrankten den Zugang zu besseren Behandlungen eröffnen. Sie ist zugleich ein entscheidender Schritt hin zur Präzisionsonkologie und zu einem tieferen Verständnis von Tumorkrankheiten.
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