Die fabelhafte Welt der Mathematik: Mit Mathematik zum erfolgreichen Hollywood-Blockbuster

Was war der letzte Film, den Sie im Kino gesehen haben? Ich gehe inzwischen nur noch sehr selten ins Kino. Das liegt unter anderem daran, dass ich lieber Serien schaue als Spielfilme - am liebsten irgendetwas mit Geheimdiensten und Action (ich freue mich über gute Empfehlungen). Deshalb ziehen mich nur noch richtige Blockbuster ins Kino, etwa ein riesiges Epos wie »Dune«. Und ich muss zugeben: So einen Film auf großer Leinwand zu sehen, ist doch noch immer ein besonderes Erlebnis.
Seit dem Einbruch der Besucherzahlen durch die Coronapandemie im Jahr 2020 steigen die Kinobesuche in Europa zwar jährlich wieder; doch sie liegen noch immer deutlich unterhalb des Niveaus vor der Pandemie. Neben Streaming-Angeboten wie Netflix oder der Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Serien spielt dabei wahrscheinlich auch die Inflation eine große Rolle - ein Kinoeintritt ist alles andere als erschwinglich. Die Filmindustrie steht also mehr denn je unter Druck, die Menschen mit außergewöhnlichen Produktionen doch noch ins Kino zu locken. Dabei kann die richtige Mathematik helfen.
Im Juni 2018 veröffentlichte ein Team um die britische Datenwissenschaftlerin Ganna Pogrebna eine Arbeit, in der es die Einnahmen, Ausgaben und Beliebtheitswerte für mehr als 6000 verschiedene Filme auswertete. Dabei orientierte es sich an einer Analyse zu literarischen Werken, die Forschende der University of Vermont zwei Jahre zuvor präsentiert hatten. Die Forschungsgruppe in Vermont hatte herausgefunden, dass fast alle Bücher einem von sechs verschiedenen emotionalen Spannungsbögen folgen. Pogrebna und ihr Team identifizierten ähnliche Verläufe in Filmen - und werteten aus, welche beim Publikum am besten ankommen und am meisten Geld einspielen.
Storytelling: Von Aristoteles bis Hollywood
Schon der Universalgelehrte Aristoteles dachte darüber nach, wie sich eine Geschichte möglichst gut erzählen lässt: »Eine vollkommene Tragödie sollte nicht nach einem einfachen, sondern nach einem komplexen Schema aufgebaut sein. Sie sollte außerdem Handlungen nachahmen, die Mitleid und Furcht erregen.« Etwa 2300 Jahre später untersuchte der US-amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut die emotionalen Verläufe von bekannten Erzählungen. Dazu analysierte er, wie viel Trauer beziehungsweise Freude die Geschichten von Anfang bis Ende transportieren, und zeichnete die Verläufe auf. Dabei fand er sechs dominante Spannungsbögen vor.
Vom Tellerwäscher zum Millionär
Diese Geschichten starten mit einer negativen Situation: eine einsame oder arme Person, die sich im Lauf der Zeit immer weiter hocharbeitet. Ein klassisches Beispiel dafür ist »Harry Potter«, ein kleiner Junge, der anfangs als Außenseiter unter einer Treppe lebt und sich dann als erfolgreicher Zauberer entpuppt und Freundschaften aufbaut.
Tragödie
Bei Tragödien nimmt die Geschichte den umgekehrten Verlauf: Sie startet positiv und endet negativ, wie bei »Romeo und Julia«. Das Paar ist anfangs glücklich, doch am Ende sterben beide Protagonisten.
Mann im Loch
Bei diesen Geschichten geht es dem Protagonisten anfangs gut, dann allerdings nimmt die Geschichte eine negative Wendung; am Ende befindet er sich jedoch meist in einer besseren Situation als zu Beginn. Ein typisches Beispiel dafür ist »Der Pate«: Zu Beginn ist die Familie Corleone an der Spitze der Macht, doch dann wird das Familienoberhaupt schwer verletzt und sein ältester Sohn ermordet. Daraufhin übernimmt aber der zweite Sohn die Rolle des Anführers und wird zum neuen Paten gemacht.
Ikarus
Hier nimmt der emotionale Spannungsbogen einen umgekehrten Verlauf als beim »Mann im Loch«: Der Protagonist beginnt in einer schlechten Ausgangslage, die sich zunächst bessert, aber dann rapide verschlechtert, so dass er am Ende meist schlechter dran ist als zuvor. Ein Beispiel für eine solche Ikarus-Geschichte ist »Mathilde – eine große Liebe«: Eine Frau wird durch den Ersten Weltkrieg von ihrem Verlobten getrennt. Während sie nach ihm sucht, schöpft sie Hoffnung, ihn wiederzufinden, findet dann jedoch heraus, dass er getötet wurde.
Aschenputtel
Aschenputtel-Geschichten beginnen mit einer schlechten Lage, die sich für den Protagonisten zunächst bessert, auf die dann aber ein emotionaler Abstieg folgt. Im Anschluss daran bessert sich die Situation allerdings, so dass es ein Happy End gibt. Ein Beispiel für eine solche Geschichte ist »Ein Schweinchen namens Babe«: Ein Ferkel kämpft auf einem Bauernhof darum, seinen Platz zu finden. Irgendwann wird es von einer Schäferhündin adoptiert und das Schweinchen eignet sich Eigenschaften von Hütehunden an. Das führt jedoch dazu, dass sich das Ferkel missverstanden fühlt und in Gefahr begibt. Am Ende erlebt das es ein Happy End, als es an einem Schäferhund-Wettbewerb teilnimmt und als Sieger hervorgeht.
Ödipus
Der emotionale Spannungsbogen von Ödipus verläuft umgekehrt zu Aschenputtel. Der Protagonist startet in einer guten Ausgangslage, erlebt einen Schicksalsschlag, rappelt sich wieder auf, endet aber in einer schlechten Situation. Ein Beispiel dafür ist »Besser geht's nicht«: Ein Schriftsteller wurde zu einem neurotischen und misanthropischen Menschen. Der emotionale Aufstieg beginnt, als er sich unfreiwillig um den Hund seines Nachbarn kümmern muss und dadurch eine Frau kennen lernt, in die er sich verliebt. Der Protagonist beginnt, sich zu öffnen und zu verändern. Doch am Ende erwidert die Frau seine Gefühle nicht, was zu Selbstzweifel und Frustration führt.
Das Team um Pogrebna wollte herausfinden, ob auch Spielfilme diesen sechs emotionalen Verläufen folgen - und welcher Aufbau sich am meisten auszahlt. Dafür mussten sich die Forschenden zunächst einmal Daten beschaffen. Das machten sie, indem sie die englischen Untertitel von insgesamt 6174 Filmen herunterluden und anschließend analysierten.
Dafür teilten sie die Untertitel zunächst in einzelne Sätze auf und maßen dann jedem darin vorkommenden Wort einen von drei emotionalen Werten bei: –1 für negative Ausdrücke, 0 für neutrale und +1 für positive Worte. So konnten die Forschenden jedem Satz einen emotionalen Wert zwischen –1 und +1 zuordnen. Anschließend haben sie die Daten so aufbereitet, dass die Verläufe aus jeweils 100 einzelnen Punkten (mit Werten zwischen –1 und +1) bestehen, damit auch Filme unterschiedlicher Länge miteinander verglichen werden können.
Anschließend wollten die Fachleute die Verläufe unterschiedlicher Filme gruppieren. Dafür mussten sie eine Art Maß definieren, das den Abstand zweier emotionaler Spannungsbögen bemisst. Jeder Film besteht aus 100 Punkten X, die jeweils einen Wert zwischen –1 und 1 annehmen und quasi angeben, wie traurig oder fröhlich der Film an einer gewissen Stelle ist (X(50) gibt beispielsweise die Emotion zur Halbzeit des Films an). Der Unterschied zweier Spannungsbögen mit den jeweiligen Punkten X und Y lässt sich den Forschern zufolge folgendermaßen berechnen:
Auf diese Weise wird der Unterschied zwischen den emotionalen Verläufen zweier Filme zu jedem Zeitpunkt t miteinander verglichen - dafür sorgt das Integral über die Differenz von X(t) und Y(t). Durch das Betragsquadrat und die Quadratwurzel spielt das Vorzeichen bei der Gegenüberstellung keine Rolle; es ist also egal, ob eine Kurve oberhalb oder unterhalb der anderen verläuft - nur ihr Abstand ist relevant. Mit diesem Maß konnten die Fachleute die Filme mit dem geringsten Abstand gruppieren. So wie Vonnegut fand auch das Team um Pogrebna sechs Gruppen vor, mit den zuvor genannten emotionalen Verläufen.
| emotionaler Verlauf | Anzahl Filme |
|---|---|
| Vom Tellerwäscher zum Millionär | 632 |
| Tragödie | 1402 |
| Mann im Loch | 1598 |
| Ikarus | 1113 |
| Aschenputtel | 804 |
| Ödipus | 625 |
Dieses Ergebnis überraschte die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen nicht - schließlich hatte die Forschungsgruppe von der University of Vermont zwei Jahre zuvor gezeigt, dass fast alle Bücher diesen sechs emotionalen Spannungsbögen folgen. Und da sich Filme häufig auf Buchvorlagen stützen (oder deren Geschichten an literarische Werke angelehnt sind), hatten Pogrebna und ihr Team eine solche Übereinstimmung erwartet.
Wie sich herausstellt, korreliert das Filmgenre oft mit dem emotionalen Spannungsbogen. So haben Horrorfilme meist eine Tragödien-Struktur, während Komödien dem Aufbau vom »Mann im Loch« oder Aschenputtel folgen. Biografien sind häufig »Vom Tellerwäscher zum Millionär«-Geschichten, bei Thrillern zeigt sich hingegen eher die Struktur vom »Mann im Loch«.
Welche Filme sind am erfolgreichsten?
Als Nächstes wollten die Forschenden herausfinden, welche emotionalen Verläufe am erfolgreichsten sind - sowohl finanziell als auch bei den Zuschauern. Dafür brauchten die Fachleute weitere Informationen, die sie von zwei verschiedenen Quellen sammelten: »The numbers«, eine Website, welche die Produktionskosten von Filmen schätzt und die dazugehörigen Einnahmen angibt, und »Internet Movie Database« (kurz: IMDb), eine Online-Plattform, auf der Nutzerinnen und Nutzer Filme bewerten können.
Zuerst untersuchten die Fachleute die Einnahmen, welche die Filme im Inland - nicht weltweit - generiert haben, da nur diese Information für alle Werke verfügbar war. Am besten schnitt dabei die Kategorie »Mann im Loch« ab. Deren Filme spielten im Durchschnitt 37,48 Millionen US-Dollar ein, verglichen mit 33,63 Millionen US-Dollar, welche die zweiterfolgreichste Kategorie »Aschenputtel« generierte.
| emotionaler Verlauf | Einnahmen in Millionen US-Dollar |
|---|---|
| Mann im Loch | 37,48 |
| Aschenputtel | 33,63 |
| Ödipus | 31,44 |
| Ikarus | 30,57 |
| Tragödie | 29,94 |
| Vom Tellerwäscher zum Millionär | 29,71 |
Hierbei zeigt sich, dass die zwei erfolgreichsten Filmtypen jeweils ein Happy End haben. Die Erfolgsstory vom amerikanischen Traum (»Vom Tellerwäscher zum Millionär«) spielte hingegen durchschnittlich am wenigsten Einnahmen ein.
Anschließend verglichen die Studienautoren ihre Ergebnisse mit den geschätzten Produktionskosten der Filme, um auszuschließen, dass sich die hohen Einnahmen nur aus den hohen Ausgaben ergeben. Für Filme der Kategorie »Mann im Loch« konnten sie keine Korrelation feststellen: Diese Filme spielen offenbar unabhängig davon, welches Budget sie haben oder welchem Genre sie angehören, in der Regel viel Geld ein. Bei Tragödien scheint das anders zu sein; diese generieren meist weniger Geld; es sei denn, die Filme hatten besonders hohe Produktionskosten (im Bereich von 100 Millionen US-Dollar oder mehr). »Das erklärt den finanziellen Erfolg von großen historischen Dramen wie ›Der letzte Samurai‹ oder Abenteuerfilmen wie ›Life of Pi‘«, schreibt das Team um Pogrebna in seiner Arbeit.
Welche Filme sind am beliebtesten?
Aber sind die Filme, welche die höchsten Gewinne erzeugen, auch gleichzeitig die beliebtesten? Um diese Frage zu beantworten, haben sich die Fachleute die Nutzerbewertungen auf dem Filmportal IMDb angesehen. Und dort zeigte sich ein anderes Bild:
| emotionaler Verlauf | IMDb-Nutzerbewertung |
|---|---|
| Vom Tellerwäscher zum Millionär | 6,64 |
| Ikarus | 6,54 |
| Ödipus | 6,52 |
| Tragödie | 6,52 |
| Aschenputtel | 6,51 |
| Mann im Loch | 6,45 |
Tatsächlich schnitten Filme mit einem »Mann-im-Loch«-Verlauf auf einer Skala von 1 bis 10 um 0,19 Punkte schlechter ab als »Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär«-Geschichten. Hierbei zeigt sich also ein anderer Trend als bei den Einnahmen von Filmen.
Ein Grund dafür könnte sein, dass letztere Kategorie generell mehr Bewertungen erhielt und sich Nutzende oft eher zu negativen Kommentaren hinreißen lassen, spekulieren die Autorin und die Autoren der Studie. Allerdings stimmt auch der IMDb-Metascore, der sich auf externe Kritiken eines Films stützt, mit dem in den Nutzerbewertungen gezeigten Trend überein. »Der emotionale Verlauf von ›Mann im Loch‹ bringt offenbar nicht die beliebtesten Filme hervor, sondern die Filme, über die am meisten gesprochen wird«, schließen die Forschenden deshalb.
»Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kritiker eher ernste Filme mit einem unglücklichen Ende bevorzugen«Ganna Pogrebna
Am besten schneiden in den externen Kritiken jedoch Tragödien ab. »Der Meta-Score der Kritiker korreliert positiv mit der Tragödien-Gruppe, die tendenziell mit geringen Einnahmen verbunden ist«, beobachten die Fachleute in ihrer Studie. »Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kritiker eher ernste Filme (möglicherweise mit einem unglücklichen Ende) bevorzugen.«
Mit diesen Informationen kann die Filmindustrie nun datengestützte Entscheidungen treffen: Will sie möglichst viele Personen ins Kino locken, sollte sie vermehrt Filme mit einem »Mann-im-Loch«-Aufbau produzieren. Doch die echten Publikumslieblinge folgen offenbar einem anderen Aufbau - und zwar der klassischen »Vom Tellerwäscher zum Millionär«-Story.
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