Direkt zum Inhalt

Warkus’ Welt: Was tun mit unverdientem Glück?

Trotz Zukunftsängsten geht es vielen Menschen vergleichsweise sehr gut. Unser Philosophiekolumnist geht der Frage nach, wie man mit ungerechtfertigtem Glück in einer unvollkommenen Welt umgehen soll.
Eine Person in sommerlicher rosa Kleidung steht vor einer großen rechteckigen Öffnung in einer Ziegelmauer und blickt auf eine weite, karge Landschaft mit Hügeln am Horizont. Der Himmel ist klar und blau. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Ruhe und einer gewissen Leere.
Auch für gut Gestellte kann die Weltlage trist erscheinen.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Die Empfindung, dass vieles, wenn nicht alles, drunter und drüber geht und es zunehmend schwer wird, die Fassung zu bewahren, ist natürlich nicht neu. Ich persönlich habe Anfang 2021 einen Tiefpunkt erlebt. Damals stürmte ein Mob das Capitol in Washington, und gleichzeitig zirkulierten seriös anmutende Prognosen, es könnten über Monate hinweg täglich so viele Menschen in Deutschland an Covid-19 sterben, dass man mit dem Zusammenbruch etwa von Wasser- und Stromversorgung rechnen müsste. Letzteres geschah nun zum Glück nicht, aber in einer ganzen Reihe von Bereichen haben sich seither bekanntlich grundstürzende, krisenhafte Entwicklungen vollzogen. Es mutet manchmal geradezu unwirklich an, überhaupt noch in einem geheizten Zimmer in Deutschland zu sitzen, satt, mit einem vollen Vorratsschrank, ohne unmittelbare Gefahr für Leib und Leben.

Besonders unangenehm scheint diese Situation aus einem Zusammenspiel von zwei Gründen: Einerseits weiß ich nicht, wie lange es mir noch gut gehen wird und wie unangenehm die Zukunft eventuell werden wird. Vielleicht ist das gerade deswegen bedrückend, weil die sofortige, völlige Apokalypse nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Als Kind der 1980er Jahre ist mir die Angst vor dem Atomkrieg noch ein recht bekanntes Gefühl – und da ich in der Nähe von Ramstein, Baumholder und den vielen anderen Militärbasen in der Pfalz in einem wichtigen Zielgebiet aufwuchs, habe ich mir über das, was nach dem großen Blitz kommen würde, nie viele Gedanken gemacht. Heute ist das anders. Zum ersten Mal in meinem Leben führe ich am Frühstückstisch Gespräche darüber, was es bedeuten könnte, wenn das Land in einen konventionellen Krieg verwickelt würde.

Zur Angst davor, dass es einem vielleicht bald schlechter gehen könnte, tritt bei mir andererseits die Scham oder doch zumindest die Ratlosigkeit darüber, dass es einem immer noch verhältnismäßig gut geht – und anderen nicht. Praktisch jeder Mensch hat heutzutage Zugang zu Medien, über die er sich zumindest grob darüber informieren kann, wie die Verhältnisse in anderen Weltgegenden sind. Warum habe ich hier meinen Kühlschrank, mein Tagesgeldkonto, meine Fernwärme und meine weiche Daunendecke, während in der Ukraine oder im Ostkongo andere, die nicht schlechter sind als ich, ohne eigene Schuld entsetzlich leiden müssen?

Mir sind in letzter Zeit viele Mitmenschen begegnet, die sich einen tiefen Pessimismus zu eigen gemacht haben. Dass ohnehin alles den Bach runtergeht, scheint ihnen völlig sicher. In den sozialen Medien wetteifern die Nutzerinnen und Nutzer manchmal geradezu darum, wer mit dem größten Galgenhumor sprechen und das schlimmste Schicksal antizipieren kann. Das ist in meinen Augen ein Ansatz, der beschriebenen Zwickmühle zu entkommen: Man imaginiert sich in eine Zukunft, in der es einem selbst maximal schlecht geht, weil ein Krieg ausgebrochen ist, Faschisten die Macht ergriffen haben, die Klimakatastrophe das Land verwüstet – oder gleich alles zusammen. Und wenn einem das zu drastisch ist, kann man sich wenigstens darüber empören, was schlecht läuft, oder sogar danach verlangen, andere mögen sich doch bitte auch empören.

Wer Glück im Leben hat, soll sich dem stellen

Allerdings ist die Einstellung weit verbreitet – und auch nicht unberechtigt –, dass man Leid nur dann äußern sollte, wenn man auch wirklich leidet und nicht bloß intensive Vorstellungen vom Leid anderer oder vom eigenen zukünftigen Schicksal betrachtet. Wer tatsächlich Glück im Leben hat, soll sich dem also auch stellen, und zwar mit wenigstens einem bisschen Sinn für Verhältnismäßigkeiten. Aber wie soll man dann damit klarkommen, wenn es einem so unverdient gut geht?

Eine andere klassische Taktik besteht darin, davon auszugehen, das Unverdiente müsse man ja wohl irgendwie schon verdient haben. Berühmt ist das Konzept in bestimmten Spielarten des Protestantismus, dass das menschliche Schicksal gänzlich vorherbestimmt sei, so dass man am weltlichen Wohlergehen ablesen könne, ob Gott einem gnädig ist. Oder wer an Karma glaubt, kann schlicht alles Zufällige auf ein hypothetisches früheres Leben schieben. Aber auch unter gar nicht religiösen Menschen findet man solche Denkmuster: Irgendwas werden die Großeltern schon richtig gemacht haben, ganz aus Zufall oder gar durch unmoralische Geschäfte wird ihre Firma nicht so groß geworden sein. Irgendeine Rechtfertigung muss es dafür geben, dass sie ihren Reichtum ihren Kindern vererbt haben und niemandem sonst. Zu wissen, dass es einem ohne spezifische Leistung viel besser geht als anderen, wäre ja schon sehr unangenehm.

Ist man verpflichtet, den relativen Wohlstand so effektiv wie möglich für Schlechtergestellte einzusetzen?

Aber wenn man nun keine dieser Ausflüchte nimmt: Was soll man dann anfangen mit dem ungerechtfertigten Glück? Ist man verpflichtet, den relativen Wohlstand so effektiv wie möglich für Schlechtergestellte einzusetzen? Soll man sich eine stoische Lebenshaltung aneignen, die sich so weit wie möglich gegen die Auswirkungen von äußerem Glück oder Pech immunisiert, nur damit man hinterher sagen kann, dass man von der Gnade der Geburt in der richtigen Weltgegend wenigstens nicht profitiert hat?

Diese Kolumne gibt Ihnen keine Antwort auf solche Fragen, weil ich selbst keine habe. Ich weiß nicht, was ich mit meinem aktuellen Wohlergehen oder auch mit meinen Zukunftsängsten anfangen soll. Eine recht sinnvolle Option scheint mir aber eine, die sich in der Philosophie ebenfalls schon immer einer gewissen Popularität erfreut hat: Man kann versuchen, auch wenn es Stückwerk bleibt und sich in sehr bescheidenem Rahmen bewegt, die Welt besser zu machen – oder zumindest nicht schlechter. In ganz unterschiedlichen Fassungen schlägt sich diese Haltung etwa im traditionellen jüdischen Konzept des »Reparierens der Welt«, tikkun ha-olam, nieder, das gemeinwohlorientiertes Handeln und Streben nach sozialer Gerechtigkeit einfordert, oder aber auch in der Idee des »piecemeal social engineering« bei Karl Popper, die unter anderem den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt stark beeinflusst hat. Hier geht es um eine Politik der kleinen Schritte an Stelle von radikalen Veränderungen, um Reformen zu erreichen.

Das kann also heißen: kein Unmensch sein sowie hier und da weniger darüber nachdenken, wie man mit maximaler Konsequenz handeln müsste – sondern mehr über die konkrete gute Tat. Auch wenn es ein Bekenntnis zum Stückwerk bedeutet, zum Suboptimalen, zum kleineren Übel, zum unvollkommenen Tun in einer unvollkommenen Welt.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.