Grams' Sprechstunde: Ich kann nicht mehr!
»Ich kann nicht mehr!«, haben zuletzt einige gesagt und bestimmt noch mehr gedacht, mich selbst eingeschlossen. Wo wir im letzten Frühling dem Entsetzen und der Überforderung noch Kraft entgegensetzen konnten, heißt es nun allmählich Knockdown im Lockdown. Mit allem, was dazugehört: körperliche und emotionale Auslaugung, zerrüttete Nerven, Homeoffice-Homeschooling-Überforderung, Frust gegenüber der Politik und der Impfstoffbeschaffung. Wer fügt sich nach gut einem Jahr Pandemie noch geduldig all den Ängsten, Sorgen, Mühen und Einschränkungen, die auf uns lasten? Wie viele »können es nicht mehr hören«? Verweigern sich neuen Corona-Nachrichten, wollen keine Politikeräußerungen, keine Prognosen im TV mehr sehen? Wie viele wollen vor allem nicht ständig die Botschaften von gestern heute relativiert bekommen? Kurz, wie viele leiden an einem schweren Fall von Pandemiemüdigkeit?
Die Müdigkeit ist verständlich. Sie ist eine Folge des Hin und Her von Homeoffice (oder auch nicht), mit Kindern im Homeschooling (oder auch nicht), von der Sorge um Angehörige in Heimeinrichtungen und älteren Familienmitgliedern, die zu weit weg wohnen und mit modernen Kommunikationsmitteln nicht zurechtkommen. Von einem Jahr, in dem viele keinen Urlaub hatten, in dem die Kids nicht rauskamen, jede kleine Familienfeier ausfiel und man gute Freunde kaum je gesehen hat. Dafür sieht man im TV die Geschichte der verbotenen Faschingsfeier von rund 90 Menschen, die mitten im Corona-Hotspot von der Polizei aufgelöst werden musste. Das alles macht etwas mit uns!
Den soziopsychologischen Auswirkungen der Pandemie kann man wohl nur mit einer psychischen Konstitution entkommen, die man vielleicht lieber gar nicht haben möchte. Tag für Tag werden zwei Dinge klarer: dass es einerseits im Grunde nicht ewig so weitergehen kann – und dass es andererseits die schwer ertragbaren Einschränkungen sind, die helfen, dass es nicht ewig so weitergeht.
Das auszuhalten ist sehr schwer. Die Psychologie spricht hier von einer »kognitiven Dissonanz«. Eine Dissonanz, das weiß jeder Musiker, strebt nach Auflösung. Klar gibt's da Möglichkeiten. Im Frühjahr 2020 richteten sich beispielsweise viele in einer »neuen Häuslichkeit« ein, fanden plötzlich Geschmack an langen, einsamen Spaziergängen, schafften sich ein Haustier an, backten Sauerteigbrote und dekorierten die Fenster. Das hilft, solange man sich als nicht existenziell bedroht wahrnehmen muss. Es hilft aber auch nicht ewig, denn mit der Zeit verstärkt sich die kognitive Dissonanz, die aus dem Konflikt zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen und dem damit einhergehenden Autonomieverlust erwächst.
Und heute funktionieren die alten Bewältigungsstrategien bei vielen nicht mehr so wie noch im letzten Frühjahr.
Um uns selbst zu schützen, brauchen wir mehr Strategien, die uns eine größere Resilienz verleihen. »Resilienz« leitet sich vom lateinischen »resilire« ab, das bedeutet so viel wie »abprallen« oder »zurückspringen«. In der Medizin versteht man darunter die angemessene, sinnvolle psychische Anpassungsfähigkeit an Stressfaktoren, die ein normales Maß übersteigen. Die Psychologie beschreibt die »sieben Säulen der Resilienz«, die alle auf ihre Weise stärker oder schwächer ausgeprägt sein können: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Nein zur Opferrolle, Übernahme von Verantwortung, Aufbau von Netzwerken, Planung der Zukunft.
Aber wie kann uns das in der Pandemie ganz praktisch weiterhelfen? Ich sehe das so: Der übergreifende Gesichtspunkt ist, dass man sich einen gewissen Raum für »Selbstwirksamkeit« verschaffen kann, um nicht nur ohnmächtig und fremdbestimmt in einer belastenden Situation verharren zu müssen. Aus Aushalten wird Ausgestalten.
Doch was tun, wenn das Selbst so leer ist durch all die Belastungen, dass es wohl kaum selbstwirken kann? Ein energieloses System, das sich selbst Energie zuführt? Dann hätten wir in der Pandemie immerhin das Perpetuum mobile erfunden! Leider gibt es weder diese Wunderlösung noch ein Patentrezept in dieser Situation. Es funktioniert erst recht nicht, wenn man beim grundsätzlichen Groll »gegen das alles« angekommen ist, wenn die eigene Haltung nur noch im »Dagegensein« und »Besserwissen« besteht. Ich kenne allerdings Menschen, die eine recht befriedigende Selbstwirksamkeit ganz einfach daraus beziehen, dass sie konsequent auf die Einhaltung der in der Pandemie geltenden Alltagsregeln achten. Ganz einfach ist auch das nicht: Es erfordert ein Sichbewusstmachen, dass man damit etwas Aktives gegen die Pandemie tut. Dann aber scheint es gut zu funktionieren! Vielleicht klappt es wie bei Kindern, denen man das Maskentragen spielerisch als etwas Besonderes, gar Vorteilhaftes nahebringen sollte. Dann ist auch wieder ein Stück Resilienz gewonnen.
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