Sex matters: Auseinandergelebt – und nun?
»Vor einer Woche haben mein Mann und ich Silberhochzeit gefeiert. Da wurde mir bewusst, dass wir eigentlich nur noch auf dem Papier verheiratet sind. Ansonsten leben wir in einer Wohngemeinschaft. Seit einiger Zeit gibt es zwischen uns keinen Sex mehr, auch keine Zärtlichkeit oder körperliche Verbundenheit. Irgendwie hat sich unsere Beziehung verändert. Ich merke, dass ich gar nicht zufrieden bin – aber ich kann auch nicht genau sagen, was los ist.« (Teresa*, 53, Frau von Michael*, 49)
Irgendwann ist da dieses diffuse Gefühl von Unzufriedenheit. Was Teresa beschreibt, erleben viele Paare, die lange zusammen sind. Die Beziehung verändert sich, ein Prozess, der sich schleichend vollzieht. Wann genau es angefangen hat, können die meisten gar nicht benennen. Das Erste, was oft auffällt: Die Körperlichkeit ist abhandengekommen. Dabei geht es nicht um regelmäßigen Penetrationssex oder die Häufigkeit sexueller Aktivität, sondern um kleine Momente der Nähe im Alltag – Umarmungen, Händchenhalten, Küsse.
Teresa kam mit ihrem Mann Michael zu mir. In einer solchen Situation lasse ich beide Partner ihren Alltag beschreiben. Wie ist er jetzt, und wie war er früher? Wo hat das Paar Berührungspunkte? Teresa und Michael habe ich etwa gefragt, worüber sie reden, wenn sie sich unterhalten. Da war die Autoreparatur; die Frage, wer bei Handwerkerterminen von zu Hause aus arbeiten kann – und ob man nicht dieses Jahr endlich ein neues Sofa kaufen solle.
Und wenn sie über Hobbys sprechen, über das, was sie gerne tun – was ist dann? Auf diese Frage fiel beiden nichts ein. Weil es offenbar nichts gab. Teresa erzählte, dass sie am Anfang ihrer Beziehung oft zusammen Zeitung gelesen und über dies und das gesprochen hätten. Irgendwann sei das eingeschlafen. Michael habe sich verändert, ihm sei die Klimakrise zum Beispiel egal, dabei hätten ihn Umweltthemen früher interessiert. Michael entgegnete: Teresa sei doch auf einmal zur Umwelt-Aktivistin mutiert.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Menschen verändern sich. Ihre Werte, Einstellungen, Gewohnheiten ändern sich; Sexualität verändert sich. Statistisch gesehen ist es normal, dass Menschen mit zunehmendem Alter und in längeren Beziehungen weniger Sex haben. Eine der letzten großen Studien in Deutschland mit fast 5000 Befragten ergab, dass in der Altersgruppe der 36- bis 45-Jährigen nur gut 20 Prozent in den zurückliegenden vier Wochen keinen Sex hatten, während es in der Altersgruppe der 56- bis 65-Jährigen schon ganz anders aussah: Hier gaben 32 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen an, keinen Sex gehabt zu haben. Nicht nur das Alter, sondern auch die Dauer der Beziehung hat der Studie zufolge einen Einfluss. Hier würde ich den Studienmachern immer gerne eine Frage stellen: Was heißt denn in Ihrer Studie überhaupt Sex? Denn die Definition beeinflusst natürlich auch das Ergebnis maßgeblich. Doch das nur am Rande.
Es ist die Vergangenheit, die zusammenhält – aber das reicht nicht, um sich in der Gegenwart noch nahe zu sein
Ich finde es bedenklich, wenn der Grund für fehlende Körperlichkeit darin liegt, dass die Gemeinsamkeiten im Leben abhandengekommen sind. Die Beziehung lebt dann nur noch von der Erinnerung. Es ist die Vergangenheit, die zusammenhält – aber das reicht nicht, um sich in der Gegenwart noch nahe zu sein.
Und dennoch halten Paare an diesem Punkt aneinander fest. Warum eigentlich? Als ich das Teresa und Michael fragte, meinten sie, es sei schon nicht so schlimm. Es gab schließlich keinen tiefen Riss, keinen großen Knall, den sie als Ursache für ihre Krise ausmachen konnten.
Schleichende Entfremdung ist nun mal schwer zu fassen. Was also tun? Gemeinsam haben wir erörtert: Wie wichtig ist es Teresa und Michael überhaupt, Zeit zusammen zu verbringen, Gemeinsamkeiten zu teilen und sich dadurch verbunden zu fühlen? Gibt es vielleicht einen Weg, die Beziehung wieder mit mehr Nähe, Zärtlichkeit und Sex zu füllen? Oder haben sich die beiden so sehr verändert, dass das Miteinander nicht mehr funktioniert?
Eine nüchterne Analyse kann helfen
Manchmal hilft es, diese Fragen ganz sachlich zu betrachten. Dann bekommt jeder von mir einen Stift und einen Fragebogen. Keinen gemeinsamen, sondern jeder einen – doch mit denselben Fragen. Was ist Ihnen in Ihrer Beziehung wirklich wichtig? Was brauchen Sie an gemeinsamer Freizeit mit dem Partner, um glücklich zu sein? Wie oft möchten Sie miteinander reden? Wie wollen Sie im Streit miteinander umgehen? Was brauchen Sie an gemeinsamen Idealen, Werten und Wünschen?
Beide Partner füllen den Fragebogen getrennt aus. Dann vergleichen wir die Antworten und schauen, ob es eine Schnittmenge gibt. Manche sitzen dann bei mir und stellen fest: Verdammt, da ist echt nicht mehr viel. Oft passiert das, wenn die Kinder groß sind. Kinder sind eine Art gemeinsames Projekt, und Projekte sind irgendwann vorbei. Haus, Garten, Wohnmobil, Nachwuchs: Die eigentliche Frage ist, was nach oder zwischen den Projekten passiert. Es braucht einen gemeinsamen Alltag, der beide zufrieden macht.
Auch Teresa und Michael waren auf der Suche nach einer neuen Verbindung. Er war begeisterter Surfer und flog mehrmals im Jahr nach Portugal, um sich in die Wellen zu stürzen. Seit Jahren ohne seine Frau. Zwar wollte sie Zeit mit ihm verbringen, aber weder fliegen noch surfen. Ein kleines Ferienhaus in Holland zu kaufen, war am Ende ihre Idee. Er stimmte zu. Michael und Teresa dachten, sie hätten eine Lösung gefunden. Und ich war gespannt, ob es nur ein Projekt werden würde oder eine echte Chance für die beiden – die sich jedoch nur ergibt, wenn aus der äußeren Verbindung auch eine innere wird.
Zwei Jahre später traf ich Teresa zufällig wieder. Ihr Mann und sie waren inzwischen getrennt. Sie hatte immer im Garten des Ferienhauses gearbeitet, während er am holländischen Strand surfen war, aber danach passierte nichts mehr. Die Gespräche drehten sich nur noch um Organisatorisches. Das Projekt Ferienhaus hatte sie nicht zusammengebracht, die innere Veränderung war zu groß. Dennoch war Teresa froh, es versucht zu haben – und inzwischen in einer neuen Beziehung mit jemandem, mit dem sie Werte teilte und Nähe erlebte.
* Namen geändert
Jetzt sind Sie dran:
Drücken Sie einmal im Jahr die Pausentaste in Ihrer Beziehung. Innehalten, Bilanz ziehen. Wie zufrieden sind Sie? Überlegen Sie sich drei Fragen, die für Sie stimmig sind, und beantworten Sie jede für sich. Vergleichen Sie und finden Sie heraus, wo Ihre Schnittmengen liegen – und wo es vielleicht Veränderungen gibt, denen Sie Ihre Aufmerksamkeit widmen wollen.
Schreiben Sie uns!
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