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Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn die Natur- eigentlich Kulturwissenschaften wären?

Ohne Naturwissenschaften sähe die Welt finster aus. Und das nicht nur, weil wir im Dunkeln säßen, sondern weil viele gesellschaftliche Entwicklungen nicht stattfinden würden.
Der Kabarettist Vince Ebert

Am 1. November 1755 kam es zu einem verheerenden Erdbeben in Lissabon. Ein Ereignis, das die Gelehrten damals ziemlich verstört hat, denn viele von ihnen haben sich gefragt: Wieso in aller Welt legt Gott an einem hohen Feiertag wie Allerheiligen eine katholische Vorzeigemetropole in Schutt und Asche? Und noch viel schlimmer: Warum hat er die Kirchen im Ort zerstört, das Rotlichtviertel jedoch auf wundersame Weise verschont? Hat Gott etwa schwarzen Humor? Ist er vielleicht sogar Atheist?

Heute wissen wir natürlich, dass nicht Gott, sondern die Plattentektonik für Erdbeben verantwortlich ist. Dennoch hat auch sie anscheinend ein Faible für christliche Feiertage. Das Seebeben im Jahr 2004, das den fürchterlichen Tsunami ausgelöst hat, fand am zweiten Weihnachtsfeiertag statt. Das stärkste Beben, das jemals in Nordamerika gemessen wurde, ereignete sich 1964 an Karfreitag. Heute geht man davon aus, dass das Allerheiligen-Beben in Portugal einer der Auslöser war, weshalb sich damals viele Gelehrte erstmals wirklich Gedanken über die echten Gründe von Naturereignissen gemacht haben. Nach und nach entstand so die Denkmethode der Wissenschaft.

Wenn wir in Deutschland über kulturelle Errungenschaften reden, dann denken die meisten Menschen intuitiv an Dinge wie Musik, Philosophie, Kunst oder vielleicht auch Theologie. Sehr selten werden die Naturwissenschaften mit Kultur in Verbindung gebracht. Wenn Sie auf einer x-beliebigen Party in Deutschland fragen, wie viele das zweite Gesetz der Thermodynamik beschreiben können, dann ernten Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ratloses, belustigtes Kopfschütteln. Aber diese Frage entspricht in der Welt der Naturwissenschaften ungefähr der Frage: »Können Sie mir sagen, worum es grob in Goethes Faust geht?«

Ein kulturell gebildeter Mensch in Deutschland kennt sich aus mit Kant, Mozart oder Schiller. Aber nicht mit Heisenberg, Darwin oder Gauß. Bildung und Kultur sind Arte-Themenabende. Über serbokroatische Käseschachtelfabrikanten. In Schwarz-Weiß. Wir Deutschen feiern unsere Literatur-Nobelpreisträger ab, aber ignorieren unsere natur- und ingenieurwissenschaftlichen Überflieger. Wir nennen uns gerne das Land der Dichter und Denker, aber wenn uns der Rest der Welt dafür bewundert, dass wir das Land der Kernspalter und Autobauer ist, blicken wir verschämt zur Seite.

Haben Naturwissenschaften also wirklich nichts mit Kultur zu tun? Ganz im Gegenteil. Denn wissenschaftliche Erfindungen haben schon immer auch gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst. Der Buchdruck hat die allgemeine Bildung ermöglicht. Kopernikus und Darwin haben mit ihren Erkenntnissen den Einfluss der Kirche zurückgedrängt. Die Antibabypille war wesentlich für die sexuelle Befreiung der Frauen verantwortlich. Die Erfindung des Telefons brachte die Menschen zusammen, außerdem entstand dadurch der Beruf der Telefonistin, der vielleicht wichtigste Wegbereiter für die Berufstätigkeit von Frauen. Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb Frauen auch heute noch so gerne telefonieren?

Waschmaschinen, Trockner und Mikrowellenherde machten das Dienstpersonal überflüssig, was ein großer Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit bedeutete. Auch die Erfindung des Blitzlichts hat gesellschaftlich einiges bewirkt. Dadurch konnte man zum ersten Mal in dunklen Räumen fotografieren und hat damit die katastrophalen Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien während der industriellen Revolution sichtbar gemacht. Es waren jene schrecklichen Bilder, die den Anstoß für Sozialreformen gaben.

Wissenschaft und Technik sind nicht nur Motoren des Wohlstands, sie machen unsere Welt auch menschlicher. Als man zum ersten Mal unter dem Mikroskop Krankheitserreger nachweisen konnte, wusste man, dass es eben nicht die rothaarige Nachbarin war, die die Kinder mit Cholera verhext hatte. Das hat sich mittlerweile sogar im Odenwald herumgesprochen. Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman sagte einmal treffend: »Naturwissenschaft ist eine lange Geschichte, wie wir gelernt haben, uns nichts mehr vorzumachen.« Noch vor 400 Jahren wurde jedes Unwetter und jede Krankheit, alles, was irgendwie außerhalb der Normalität war, als Hexenwerk angesehen. Heute liefern Molekularbiologie und Meteorologie eine Erklärung für das, was noch vor wenigen Jahrhunderten ausgereicht hat, um Frauen zu verbrennen.

Natürlich sind die Opern von Mozart, die Bilder von Picasso oder die Stücke von Shakespeare bedeutende kulturelle Errungenschaften. Doch ohne Wissenschaft und Forschung sind die zukünftigen Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, nicht zu schaffen. Für mich ist die wichtigste kulturelle Leistung der Menschheit die Idee, Wissen zu erwerben. Es basiert auf Logik, Rationalität und Beweisen und nicht auf Vermutungen, auf Autorität oder Offenbarung. Das wissenschaftliche Denken lehrt uns, Fragen zu stellen, zu zweifeln und nichts als gegeben hinzunehmen. Und genau das bringt uns weiter: in der Forschung, in der Industrie, aber eben auch als Menschen in unserer kulturellen Entwicklung.

Mehr über den Kabarettisten, Autor, Moderator und Physiker unter www.vince-ebert.de.

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