Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn es kein gerechtes Bildungssystem gäbe?
Heutzutage ist Kindererziehung zu einer echten Herkulesaufgabe geworden. Man muss ja auf so vieles achten. Soll das werdende Kind mit Mozart beschallt werden oder doch lieber mit Rammstein? Ist der Kita-Platz auch für Hausstauballergiker geeignet? »Papa, kann ich eine Dose Tunfisch aufmachen?« – »Ja, aber bitte zieh deinen Helm auf!«
Wie und zu was sich Kinder entwickeln, ist nicht immer hundertprozentig planbar. Das ist schwer zu akzeptieren. Viele Eltern sind davon überzeugt, dass man mit genug Förderung buchstäblich jedes Kind zu einem Einstein machen kann.
In der Wissenschaft bezeichnet man dies als die »Theorie vom unbeschriebenen Blatt«. Dahinter steht die Vorstellung, dass der gesamte Charakter eines Menschen, seine Intelligenz, seine Ansichten und Vorlieben nur durch äußere Einflüsse beeinflusst und geformt werden. Biologische und genetische Faktoren sollen demnach praktisch keine entscheidende Rolle spielen. Nach dieser Theorie kann also jeder alles werden, was er sich wünscht, sofern er nur dementsprechend darauf vorbereitet und geschult wird. Kein Wunder, dass diese Vorstellung besonders in den USA so beliebt ist. Einem Land, das auf dem Mythos aufbaut »Du kannst alles erreichen!«
Der Mensch, ein beschriebenes Blatt
Inzwischen jedoch hat die Forschung eindeutig gezeigt: Wir kommen nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Anscheinend gibt es eine Menge Faktoren, die uns von Geburt an mitgegeben werden. Eineiige Zwillinge gleichen sich nicht nur in Aussehen oder Haarfarbe, sondern zeigen auch verblüffende Gemeinsamkeiten in der Berufswahl, bei Hobbys, bei Straffälligkeiten, Scheidungsraten sowie religiösen und politischen Vorlieben.
Auch der IQ eines Menschen ist stark erblich. Sogar fast so stark wie die Körpergröße. Ich sag's ungern, aber wenn Sie sich als Eltern beim Rechnen im Zehnerraum schwertun, ist es relativ unwahrscheinlich, dass Ihr kleiner Jonathan die Mathe-Olympiade gewinnt. Selbst dann, wenn Sie ihn dreimal die Woche zur Quantenphysikvorlesung schleppen.
Nach allem, was die Intelligenzforschung weiß, haben sie praktisch keine Chance, ein Kind mit einem angeborenen mittleren IQ überdurchschnittlich intelligent zu machen. Runter geht allerdings immer. Von getrennt aufgewachsenen Zwillingen wissen wir, dass es einen enormen IQ-Unterschied ausmachen kann, je nachdem, in welchen Verhältnissen die beiden groß werden.
In den USA ist diese Schere besonders dramatisch. Wenn der eine Zwilling in einer Familie aufwächst, die zu den ärmsten 15 Prozent des Landes gehört, hat er zum Schluss einen um 15 Punkte niedrigeren IQ als sein Bruder, der bei den reichsten fünf Prozent aufwächst.
Für die Sozial- und Bildungspolitik eines Landes ist das eine beklemmende Nachricht. Wie viele Hochintelligente gibt es wohl, die auf Grund ihrer armen Herkunft niemals die Chance bekommen, ihr geistiges Potenzial auszuschöpfen?
Das Dilemma der Gleichheit
Es ist bedauernswert, dass in vielen Ländern immer noch die soziale Herkunft eines Kindes seinen späteren Lebensweg stärker beeinflusst als seine angeborenen Talente und Fähigkeiten. In Deutschland ist Chancengleichheit im Schulsystem eine der großen Herausforderungen. Doch auch sie führt zu Ungleichheiten. Denn je gerechter wir ein Bildungssystem machen, desto stärker treten automatisch die angeborenen Leistungsunterschiede hervor. Das Bildungssystem der USA diskriminiert also eher die sozial schwächer Gestellten, das unsrige diskriminiert in höherem Maße die genetisch schwächer Gestellten. Das mag nicht jedem Gleichheitsfan gefallen, aber je sozial gleicher wir eine Gesellschaft machen, desto größer wird der Einfluss der Gene und umgekehrt.
Dennoch ist unsere Erziehung nicht unser Schicksal. Genauso wenig, wie es unsere Gene sind.
Für überbehütende Eltern ist es vielleicht enttäuschend, dass es kein Patentrezept für die Entwicklung eines glücklichen und erfolgreichen Kindes gibt. Aber würde es uns wirklich gefallen, wenn wir jedes Merkmal und jede Charaktereigenschaft unserer Kinder beeinflussen und festlegen könnten?
In den USA jedenfalls hätten viele damit kein Problem. Inzwischen gibt es für gut betuchte Amerikaner Samenbanken, die gegen gutes Geld das Sperma von Nobelpreisträgern verkaufen. Ob's funktioniert, sei dahingestellt. Als der Biochemiker George Wald um eine Samenprobe gebeten wurde, erwiderte er nur: »Wenn Sie Sperma haben möchten, das Nobelpreisträger hervorbringt, sollten Sie sich lieber an meinen Vater wenden, einen bettelarmen Einwanderer und einfachen Schneider. Wissen Sie, was mein Sperma der Welt geschenkt hat? Zwei Gitarristen …«
Mehr über den Kabarettisten, Autor, Moderator und Physiker unter www.vince-ebert.de
Schreiben Sie uns!
5 Beiträge anzeigen