Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn uns Nachrichten uninformierter machen würden?
Wann haben Sie das letzte Mal in der Zeitung die Schlagzeile gelesen: »Heute schon wieder 25 000 Flugzeuge sicher gelandet.«? Oder können Sie sich daran erinnern, dass der »Tagesschau«-Sprecher jemals gesagt hat: »Derzeit herrscht in 189 Ländern dieser Erde Frieden.«? Warum ploppt in unserem Newsticker niemals die Meldung auf: »Im letzten Jahr sind 99,8 Prozent der Deutschen nicht gestorben.«?
Der Grund ist nachvollziehbar. Medienschaffende verdienen ihr Geld mit Aufmerksamkeit. Daher richten sie im Kampf um Marktanteile, Quoten und Auflagenzahlen ihren Blick gerne auf spektakuläre, dramatische Ereignisse. Doch gerade diese Aufmerksamkeitsökonomie führt zu einer verzerrten Wahrnehmung unserer Wirklichkeit.
Bereits 1891 untersuchte der Soziologe Herbert Spencer, welche Themen in den Medien besonders hysterisch und aufgeregt behandelt wurden und welche Relevanz sie nach dem damaligen Stand der Forschung tatsächlich hatten. Das Ergebnis: Die mediale Aufmerksamkeit eines Problems verhält sich indirekt proportional zu seiner tatsächlichen Dringlichkeit. Oder einfach ausgedrückt: je hysterischer, umso unbedeutender.
Fragt man beispielsweise einen Bundesbürger, wie viele Morde seiner Meinung nach pro Jahr in Deutschland verübt werden, so liegt die Antwort meist bei weit über 1000 Opfern. Tatsächlich wurden 2017 in der Bundesrepublik 405 Morde gezählt. In Diktaturen halten sich die Bürger dagegen für relativ unbedroht von Mord und Raub, weil die dortige Zensur die Berichte darüber systematisch unterdrückt. In Ländern mit freier Presse geistern spektakuläre Einzelfälle wochenlang durch die Medien und hinterlassen den Eindruck, man lebe in einem Land voller Massenmörder.
Es ist paradox. In Nordkorea wissen die Leute nichts, weil es keine freie Presse gibt. In Deutschland wissen die Leute auch nicht viel mehr, weil sie von der freien Presse mit Tausenden von Informationen überrollt werden. Natürlich war auch ich zutiefst erschüttert, als ich im Sommer in den »Tagesthemen« erfahren musste, dass Helene Fischer und Florian Silbereisen ab nun getrennte Wege gehen. Aber gäbe es nicht wichtigere Fakten zu berichten? Mangelnde Hygiene in Krankenhäusern. Oder die hohe Zahl der Nikotin- und Alkoholopfer stellen in Deutschland wirklich relevante Probleme dar. Doch darauf reagieren die Medien vergleichsweise gelassen.
Herbert Spencer hatte für dieses Phänomen eine Erklärung: Wenn ein gesellschaftliches Problem wie etwa Drogenkonsum, Hunger oder Kinderarbeit weit verbreitet und schwer wiegend ist, wird es in der Gesellschaft kaum diskutiert und oft nicht einmal registriert. Sobald jedoch bestimmte Umstände zu seltenen Ausnahmen werden, ziehen sie mehr Aufmerksamkeit auf sich. Exotische Nachrichten verkaufen sich einfach besser. »Hund beißt Mann« ist eine lahme Schlagzeile. »Mann beißt Hund« ist da schon wesentlich spektakulärer.
In Wirklichkeit regen wir uns nicht deswegen auf, weil irgendetwas gefährlich ist, sondern wir denken, irgendetwas ist gefährlich, weil wir uns aufregen. Am Ende glauben wird nicht das, was wissenschaftlich erwiesen ist, sondern das, was wir überall massenhaft gehört, gelesen oder gesehen haben. Dadurch neigen wir dazu, unsere Zeit mit Scheindebatten und Pseudoproblemen zu verschwenden.
Vor einigen Jahren ließ der Statistikprofessor Walter Krämer seine Studenten in verschiedenen Tageszeitungen diejenigen Nachrichten auszählen, die einem Panikthema gewidmet waren. Bei der »Frankfurter Rundschau« waren das zehnmal so viele wie im Pariser »Le Monde« oder in der »El País« aus Madrid. Wer also einen Monat lang konsequent deutsche Tageszeitungen liest, glaubt, die Apokalypse stünde kurz bevor. Und wenn morgen tatsächlich die Welt untergehen sollte, schreibt die »Süddeutsche« noch: »Bayern trifft's am härtesten!«
Wir alle konsumieren rund um die Uhr irgendwelche News. Doch paradoxerweise führt übermäßiger Newskonsum zur Nichtverstehbarkeit der Welt. Da Nachrichten dazu tendieren, einzelnen sichtbaren Opfern und Ereignissen zu viel Aufmerksamkeit zu widmen, statt die nüchternen Zahlen im Auge zu behalten. Natürlich ist jedes Einzelschicksal eine persönliche Katastrophe, aber zu einer realistischen Einschätzung der Lage müssen wir immer die Gesamtstatistik im Blick haben. Mit Zahlen allein lässt sich die Welt nicht verstehen, aber ohne Zahlen lässt sie sich überhaupt nicht verstehen.
Wenn Sie weniger News und dafür mehr Sachbücher und Fachartikel lesen, werden Sie merken, dass die Probleme, die bei uns so hysterisch diskutiert werden, oft gar nicht so dramatisch sind wie gedacht. Unterhält man sich zum Beispiel mit Deutschen, die ein paar Jahre im Ausland gelebt haben und wieder zurückkommen, sagen die im Prinzip alle das Gleiche: »Eigentlich hat sich hier nichts verändert. Seit 40 Jahren ist es fünf vor zwölf, irgendwas kann nicht entschieden werden, weil irgendwo Landtagswahlen sind – und Carpendale ist immer noch auf Abschiedstour.«
Mehr über den Wissenschaftskabarettisten und Bestsellerautor finden Sie unter www.vince-ebert.de
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