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Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn Unwissen wichtiger als Wissen wäre?

Ein Plädoyer zum Zweifeln und zum Eingestehen von Irrtümern von Wissenschaftskabarettist Vince Ebert.
Der Kabarettist Vince Ebert

Als ich 1993 meine Diplomarbeit in Physik begann, hatte ich eine ganz konkrete Vorstellung, wie Forschung auszusehen hat: Man stellt eine möglichst originelle Hypothese auf und überprüft ihren Wahrheitsgehalt dann in einem Experiment. Wenn alles klappt, klopft einem der Professor auf die Schulter, reicht die Arbeit bei »Science« oder »Nature« ein, und dann wartet man auf einen Anruf aus Stockholm.

»Infrarot-Untersuchungen an Betain-Arsenat, Betain-Phosphat und deren Mischkristalle, sowie Infrarot-, Raman- und dielektrische Untersuchungen an Betain-Phosphit«, so der Titel meiner Arbeit, die in der physikalischen Fachwelt – nun ja – nicht gerade einschlug wie eine Bombe. Fast ein Jahr lang saß ich bei gedimmtem Laserlicht in einem stickigen Kellerlabor, kühlte mit flüssigem Stickstoff und Helium Tag für Tag eine vorsintflutliche Anlage auf tiefste Temperaturen herunter und untersuchte dann das Verhalten von Kristallsystemen, über die weltweit etwa 30, 40 Personen genauer Bescheid wussten. Nach der Auswertung Hunderter hochpräziser Messungen ergab sich, dass der erwartete Effekt eventuell, also vielleicht, möglicherweise aber auch eher nicht, zumindest ein bisschen, mit viel gutem Willen und Fantasie … irgendwie aufgetreten ist.

Das Fazit meiner einjährigen Labortätigkeit lautete: Nichts Genaues weiß man nicht! Die Doktoranden in meiner Arbeitsgruppe kommentierten meine revolutionäre Erkenntnis recht lapidar: »Och, das haben wir uns eigentlich im Vorfeld schon gedacht. Aber der Chef wollte unbedingt, dass das jemand ausprobiert.« Na toll.

»In den Naturwissenschaften wird jede hübsche Hypothese von einer hässlichen Tatsache dahingemeuchelt«, hat der Biologe Thomas Huxley gesagt. Und Albert Einstein legte noch einen drauf: »Wenn wir wüssten, was wir tun, wäre es keine Forschung.«

Wissenschaft bedeutet, zu tasten, zu stöbern, zu fummeln, bis plötzlich irgendjemand einen Schalter findet. Dann geht das Licht an und alle rufen: »Wow, so sieht das hier aus!«

Oft bleibt es leider dunkel. Das muss nicht immer nur schlecht sein. Ab und an ist es auch eine bahnbrechende Erkenntnis, dass ein bestimmter Effekt nicht auftritt. Das wohl berühmteste fehlgeschlagene Experiment wurde von dem Physiker Albert Michelson durchgeführt. 1907 bekam er dafür sogar den Nobelpreis. Er versuchte, eine Substanz, die man »Licht-Äther« nannte, nachzuweisen. Nur mit Hilfe eines solchen Trägermediums könnten sich Lichtwellen ausbreiten, dachte man damals. Michelson widerlegte diese These durch sein 1881 durchgeführtes Experiment und bewies, dass sich Licht im Vakuum ausbreiten kann. Damit legte er den Grundstein für die Relativitätstheorie. Es war der bisher einzige Nobelpreis, der für ein gescheitertes Experiment vergeben wurde. Was meine Diplomarbeit angeht, besteht also noch Hoffnung …

Das Eingestehen von Unwissen ist eine der größten Stärken der Wissenschaft. Auch wenn es paradox klingt: Der größte Teil der Arbeit eines Wissenschaftlers besteht nicht darin, die Wahrheit festzustellen, sondern zu versuchen, gängigen Ideen den Garaus zu machen. Man schafft kein Wissen, wenn man die Evolutionstheorie zum zweiten Mal entdeckt oder etwas aufklärt, was sowieso schon jeder weiß. Wissenschaftliche Lorbeeren erwirbt man sich, indem man ein neues Forschungsgebiet auftut, es definiert und nicht zuletzt, wenn man einen fundamentalen Fehler in einer altbekannten Theorie findet. Wissenschaftlicher Fortschritt funktioniert deswegen so gut, weil man sich bewusst ist, dass jede scheinbar wasserdichte Theorie irgendwann über den Haufen geworfen werden kann.

In diesem Punkt unterscheidet sich die Wissenschaft fundamental von Ideologien, Religionen und anderen Glaubenssystemen. Dort ist man revolutionären Ideen gegenüber eher negativ eingestellt, denn wer glaubt, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, tut sich extrem schwer damit, Fehler und Irrtümer einzugestehen. Kein einziges Glaubenssystem fordert die Menschen auf, das System selbst in Zweifel zu ziehen. Die Wissenschaft tut das. Skeptisch gegenüber seinen eigenen Ideen zu sein, ist ihr Grundgedanke. Denn man kann sich nie sicher sein, ob eine Theorie zu 100 Prozent korrekt ist. Aber man kann ihre Behauptungen überprüfen. Man muss sie sogar überprüfen.

Die wissenschaftliche Methode existiert erst seit ein paar hundert Jahren. Davor war sie von magischen und religiösen Vorstellungen bestimmt. Es gab Denkverbote, die keiner überschreiten durfte, wollte er nicht auf dem Scheiterhaufen landen. Auch Hochkulturen hatten mit Wissenschaft nicht viel am Hut. Die Maya opferten zigtausende unschuldige Menschen, nur um zu garantieren, dass die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht. Hätten sie nur einen Funken wissenschaftlicher Methodik in sich gehabt, hätten sie gesagt: »Lasst uns die Menschenopfer weglassen und schauen, was am nächsten Tag passiert.« Aber vielleicht war ihnen das Risiko einfach zu groß.

Für einen Wissenschaftler ist ein Irrtum eine Information. Für einen Nichtwissenschaftler ist ein Irrtum ein Irrtum. Und für einen Ignoranten ist ein Irrtum weder ein Irrtum noch eine Information. Googlen Sie dazu einfach die Begriffe »Lothar Matthäus« und »Ehefrau«.

Mehr über den Kabarettisten, Autor, Moderator und Physiker unter www.vince-ebert.de.

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