Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn wir die Gefahren der Kernenergie überschätzten?
Kaum eine Nation der Welt fürchtet sich so vor Kernenergie wie wir Deutschen. Als es 2011 zu dem Reaktorunfall in Fukushima kam, wurden in den Apotheken von Flensburg bis Oberammergau die Jodtabletten knapp. Sogar Geigerzähler fanden in den Baumärkten der Nation reißenden Absatz. Die Bundesregierung reagierte umgehend und beschloss wenige Wochen später, aus der Kernenergie auszusteigen.
Doch wie gefährlich ist Kernenergie wirklich? Oder genauer gesagt: Wie gefährlich ist sie im Vergleich zu anderen Arten der Energieerzeugung?
Einen guten Richtwert dafür bildet der »Energy's Deathprint«. Darunter versteht man die Zahl der Todesopfer, die eine bestimmte Energieart pro erzeugte Petawattstunde kostet. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde der »Energy's Deathprint« von der Weltgesundheitsorganisation, dem Center for Disease Control, der National Academy of Science und diversen anderen Instituten berechnet und abgeschätzt. Die Ergebnisse weisen alle in dieselbe Richtung: Die eindeutig tödlichste Form der Energieerzeugung ist Kohlestrom. Auf jede erzeugte Petawattstunde (PWh) Kohlestrom kommen den Berechnungen zufolge 100 000 Todesopfer. Die Zahlen errechnen sich aus der Kombination von direkten Todesfällen durch Stollenunglücke sowie Staublungen und weiteren epidemiologischen Schätzungen. In China liegt die Zahl auf Grund von laxen Umwelt- und Arbeitsschutzmaßnahmen sogar bei 170 000 Opfern.
Am zweitgefährlichsten ist die Stromerzeugung durch Erdöl (zirka 36 000 Tote/PWh), gefolgt von Erdgas (4000 Tote/PWh). Selbst die Energieerzeugung mittels Wasserkraft ist mit 1400 Toten pro PWh (meist auf Grund von Dammbrüchen) noch vergleichsweise gefährlich. Dann kommen Solarenergie (440 Tote) und Windkraft (150 Tote). Wo in dieser Auflistung findet sich nun die Kernenergie? Sie liegt mit 90 Toten pro PWh am untersten Ende der Gefährlichkeitsskala. Dabei sind Tschernobyl, Three Mile Island, Fukushima sowie der Uranbergbau bereits eingerechnet.
Das lässt die Hysterie, die in Deutschland nach Fukushima ausgebrochen ist, in einem anderen Licht erscheinen. Tatsächlich gab es in Japan detaillierten Untersuchungen der Weltstrahlenschutzbehörde UNSCEAR zufolge bisher kein Strahlenopfer. Gemäß einem UN-Bericht waren selbst die am stärksten belasteten Arbeiter im havarierten Kernkraftwerk einer Radioaktivität von maximal 140 Millisievert (mSv) ausgesetzt. Zum Vergleich: In Indien, dem Iran und Brasilien gibt es Gebiete, in denen die Belastung auf Grund der natürlichen Radioaktivität zwischen 70 mSv und 250 mSv pro Jahr liegt. Ohne dass man bei der Bevölkerung dort signifikant erhöhte Krebsraten messen konnte.
Selbst die Katastrophe von Tschernobyl hat vergleichsweise wenige Todesopfer gefordert. Laut einem weiteren UN-Bericht aus dem Jahr 2011 gab es zum Zeitpunkt des Super-GAUs 28 unmittelbare Strahlenopfer. Im Lauf der Folgejahre erkrankten etwa 6000 Patienten an Schilddrüsenkrebs, der jedoch überwiegend geheilt werden konnte. 15 der 6000 Patienten starben an den Folgen. Als Forscher 30 Jahre nach dem Unfall die Fauna und Flora im Gebiet der Sperrzone untersuchten, konnten sie keine genetischen Anomalien der Pflanzen und Tierwelt feststellen. Es zeigten sich weder eine Dezimierung von Beständen noch andere Auffälligkeiten.
Zum Schluss noch ein kurzes Wort zum Atommüll. Auch in diesem Fall muss man dessen Gefährlichkeit in Relation zu anderen Müllarten setzen. So entstehen beispielsweise durch Kohleverbrennung große Mengen giftiger Schwermetalle, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), Arsen, Kadmium und Quecksilber. Ein Kohlekraftwerk stößt sogar in hohem Maß radioaktives Uran und Thorium aus. Auch bei erneuerbaren Energien fällt Giftmüll an: Dünnschicht-Solarmodule enthalten Kadmiumtellurid sowie hochgiftige Bleiverbindungen, die nach der Verwendung als Sondermüll entsorgt werden müssen.
Darüber hinaus entstehen bei vielen industriellen Produktionsprozessen ebenfalls Unmengen von Giftstoffen wie Zyanide, polychlorierte Dibenzodioxine oder Dibenzofurane, die in deutsche Giftmüll-Endlager transportiert werden, ohne dass jemand in diesem Land dagegen demonstriert. Und diese toxischen Verbindungen bauen sich noch nicht einmal ab. Im Gegensatz zu radioaktivem Abfall, der mit den Jahren immer weniger strahlt. Grob gesagt sind nach einem Jahr Lagerung noch etwa 5 Prozent der ursprünglichen Radioaktivität erhalten, nach zehn Jahren beträgt sie noch etwa 0,8 Prozent. Schon zu diesem Zeitpunkt ist man gefahrentechnisch aus dem Allergröbsten heraus. Nach 100 Jahren sind praktisch keine ernsthaften Verseuchungen durch atomare Endlager mehr möglich.
Die Kernenergie spaltet buchstäblich unsere Gesellschaft. In die, die sie komplett ablehnen, und die, die sie unmöglich finden.
Mit diesem Text hat Vince Ebert ein letztes Mal für »Spektrum.de« extrapoliert. Mehr über den Kabarettisten, Autor, Moderator und Physiker finden Sie unter www.vince-ebert.de.
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