Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie Primzahlen der Geometrie Grenzen setzen

Immer wieder hört man von Personen, die ihrer Zeit voraus waren, etwa Leonardo da Vinci, Nikola Tesla oder Ada Lovelace. So sehr ich diesen Einschätzungen auch beipflichte, gibt es aus meiner Sicht ein viel extremeres Beispiel, nämlich Euklid. Bereits vor etwa 2300 Jahren verfolgte er das Ziel, die Mathematik auf eine solide Grundlage zu stellen. Ein paar wenige Grundregeln sollten genügen, um daraus alles aus der Geometrie abzuleiten, von der korrekten Berechnung von Flächeninhalten bis hin zur Konstruktion rechtwinkliger Dreiecke. Damit träumte er schon damals von dem, was der Menschheit erst im frühen 20. Jahrhundert gelang: ein Fundament der Mathematik zu schaffen – auch wenn dieses nicht ganz so perfekt ist wie erhofft.
Die fünf grundlegenden Regeln, die er in seinen »Elementen« festhielt, bilden bis heute das Kernstück der »euklidischen Geometrie«, also jener Geometrie, die uns in der Schule begleitet. Mit dieser lassen sich verschiedene Vielecke zeichnen und vermessen.
In der Antike machten sich die Gelehrten unter anderem Gedanken darüber, welche geometrischen Figuren sich mit möglichst wenig Hilfsmitteln zeichnen lassen. Klar, wenn man mir Millimeterpapier gibt, mit dem ich Abstände recht genau bestimmen kann, sowie ein Geodreieck, um Winkel abzumessen, dann kann ich allerlei erstaunliche Figuren konstruieren. Aber was, wenn ich nur einen Stift, ein nicht bezeichnetes Lineal und einen Zirkel zur Verfügung habe? Wie geht man in so einem Fall vor, wenn man beispielsweise ein gleichseitiges Dreieck zeichnen soll?
Zeichnungen mit Zirkel und Lineal
Wenn Sie Spaß an Geometrie haben, kommt Ihnen diese Aufgabe wahrscheinlich sehr leicht vor. Zuerst markiert man mit dem Bleistift zwei Punkte in der Ebene und verbindet sie durch das Lineal. Dann misst man diese Länge mit dem Zirkel ab und zeichnet einen Kreis um den ersten Punkt (A). Anschließend zeichnet man einen Kreis mit demselben Radius um den zweiten Punkt (B). Die beiden Kreise haben zwei Schnittpunkte. Wenn man A und B mit einem davon verbindet, erhält man ein gleichseitiges Dreieck. Tada! Ähnlich lässt sich vorgehen, um beispielsweise ein regelmäßiges Pentagon zu konstruieren, also ein Fünfeck mit gleich langen Seiten.

Doch was, wenn man ein gleichmäßiges Siebeneck zeichnen will? Sicher, ich könnte schnell die Winkel ausrechnen, in denen die Seiten zueinander geneigt sein sollten: 128 4⁄7 Grad. Schade nur, dass ich kein Geodreieck zur Hand habe. Gelingt es irgendwie, allein mit dem Zirkel und dem Lineal einen solchen Winkel abzumessen?
Darüber zerbrachen sich die Gelehrten im antiken Griechenland den Kopf. Sie fanden Wege, ein regelmäßiges Dreieck, Viereck (easy!) und Fünfeck zu konstruieren, sowie alle Polygone mit doppelt so vielen Seiten, also regelmäßige Sechsecke, Achtecke, Zehnecke und so weiter. Aber sieben: Keine Chance! Und es sollte mehr als ein Jahrtausend vergehen, bis die Menschheit verstand, was das Problem ist.

Denn tatsächlich ist es unmöglich, ein regelmäßiges Siebeneck nur mit einem Zirkel und einem Lineal zu konstruieren. Und das lässt sich sogar hieb- und stichfest beweisen. Doch dafür braucht man eine Verbindung zwischen Geometrie und einem anderen Bereich der Mathematik: die Algebra.
Eine mathematische Brücke
Uns begegnet diese Verbindung bereits in der Schule. Wenn wir Geraden oder Kreise untersuchen, laufen uns auch immer wieder die dazugehörigen Gleichungen über den Weg, die sie beschreiben, zum Beispiel die Geradengleichung 5x + 3 = y oder die Kreisgleichung y2 + x2 = 1.
Wenn man geometrische Eigenschaften von Kreisen oder Geraden untersuchen will, hat man die Wahl: Entweder man zeichnet die Objekte auf – und ermittelt zum Beispiel so ihre Schnittpunkte. Oder aber man lässt Lineal und Zirkel links liegen und löst die Aufgabe, indem man mit den dazugehörigen Gleichungen hantiert. Ich habe immer Letzteres bevorzugt. So muss man nicht penibel genau zeichnen und erhält ein exaktes Ergebnis, ohne Mess- oder Ablesefehler.
Möchte man geometrische Figuren mit Hilfe eines Zirkels und eines unbeschrifteten Lineals konstruieren, dann erzeugt man auf diese Weise Kreise und Geraden. Übersetzt in die Sprache der Algebra bedeutet das, dass man Kreisgleichungen und lineare Geradengleichungen irgendwie miteinander verknüpft. Alle Längen x und y, die sich mit Zirkel und Lineal konstruieren lassen, sind daher Lösungen von solchen verbundenen Gleichungen.
Kombiniert man mehrere Kreis- und Geradengleichungen miteinander, können durchaus kompliziert anmutende Formeln herauskommen. Man trifft nicht selten auf Wurzelzeichen und große Brüche. Dabei können aber nur Gleichungen entstehen, die eine Quadratwurzel sowie die Addition, Multiplikation, Subtraktion und Division von Bruchzahlen enthalten. Das mag nach einer Menge verschiedener Operationen klingen – aber tatsächlich schränkt das die möglichen Lösungen stark ein.
Denn es gibt manche Operationen, etwa die Kubikwurzel, die in diesem Kontext niemals auftauchen können. Das heißt: Wenn man ein Vieleck erzeugen möchte, dessen Längen beispielsweise von der dritten Wurzel einer Zahl abhängen, dann lässt es sich nicht allein mit einem Zirkel und einem unbeschrifteten Lineal konstruieren. Man ist auf andere Hilfsmittel angewiesen. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Quadratur des Kreises misslingt: Man müsste dafür Größen konstruieren, die von π abhängen – und π lässt sich durch keine geschlossene Gleichung angeben.
Das Längenverhältnis der relevanten Seiten eines Siebenecks enthält die Größe 2·cos(2π⁄7). Es stellt sich also die Frage, ob die Zahl wie zuvor geschildert als Lösung einer verbundenen Gleichung entstehen kann. Wie sich herausstellt, gelangt man dorthin, wenn man die Formel \(x^3 + x^2 -2x -1 = 0\) nach x löst. Und diese kann nicht aus der Kombination von Kreis- und Geradengleichungen resultieren. Demnach lässt sich ein regelmäßiges Siebeneck nicht bloß mit Zirkel und einem unbeschriebenen Lineal konstruieren.
Ein ungewöhnlicher Grabstein
Das wusste auch der 19-jährige Carl Friedrich Gauß. Aber eine wichtige Frage war offen: Welche regelmäßigen Vielecke sind möglich? Wie sieht es beispielsweise mit einem Elfeck aus? Oder einem Siebzehneck? Kann man diese mit Hilfe eines unbeschriebenen Lineals und eines Zirkels zeichnen?
Tatsächlich hatte das Siebzehneck es Gauß angetan. Er tüftelte lange herum, sah sich die Seitenverhältnisse und die benötigten Winkel an, die für eine Konstruktion nötig wären. Und siehe da: Er konnte zeigen, dass alle relevanten Größen konstruierbar sind: Die benötigte Länge cos(2π⁄17) lässt sich durch folgende Gleichung berechnen:
In der Gleichung kommen nur Quadratwurzeln und die vier grundlegenden Rechenoperationen vor: plus, minus, mal, geteilt. Das war eine große Überraschung!
Damit hatte Gauß mit nur 19 Jahren ein wichtiges mathematisches Rätsel gelöst, über das sich die Menschheit mehrere Jahrtausende lang den Kopf zerbrochen hatte: Er hatte bewiesen, dass sich ein regelmäßiges Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstruieren lässt. Dieses Ereignis lenkte die Aufmerksamkeit seiner Fachkollegen auf ihn. Und tatsächlich schien er auf das Ergebnis sein ganzes Leben lang sehr stolz zu sein: Er wollte das Vieleck auf seinem Grabstein abbilden lassen – und das, obwohl er selbst das Siebzehneck niemals gezeichnet hat. (Angeblich entschied sich der Steinmetz dafür, einen Stern abzubilden, da er meinte, dass die Leute ohnehin nicht in der Lage seien, diesen von einem Siebzehneck zu unterscheiden …)
Mit dieser beeindruckenden Leistung gab sich Gauß aber nicht zufrieden. Er wollte allgemein herausfinden, welche Polygone mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind. Wenn sich ein regelmäßiges Siebzehneck konstruieren lässt, dann vielleicht auch noch viel komplexere Figuren mit einer ungeraden Anzahl von Ecken? Wie sieht es etwa mit einem 65537-Eck aus?
Nach fünf Jahren fand Gauß schließlich drei wichtige Kriterien. Wenn ein Vieleck diese erfüllt, so seine Schlussfolgerung, dann ist es zwangsweise durch einen Zirkel und ein Lineal konstruierbar. Sein Ergebnis lautet:
Falls die Anzahl der Ecken n
- eine Zweierpotenz ist, also n = 2k
- oder eine Fermat-Primzahl ist (eine Primzahl, welche die Form \(2^{2^k} +1\) hat)
- oder ein Produkt aus einer Zweierpotenz und einer oder mehrerer Fermat-Primzahlen ist,
dann lässt sich das regelmäßige n-Eck mit Zirkel und Lineal konstruieren.
Zwar vermutete Gauß, dass alle konstruierbaren Polygone diesen drei Anforderungen genügen müssen, doch dafür legte er keinen Beweis vor. Der kam erst einige Jahre später durch den Mathematiker Pierre Wantzel, der das Ergebnis 1837 veröffentlichte.
Eine Menge konstruierbarer Vielecke
Welche Vielecke lassen sich also mit Zirkel und Lineal zeichnen? Die kleinste Fermat-Primzahl erhält man, wenn man k = 0 betrachtet, also: \(2^{2^0} +1 = 3.\) Und tatsächlich: Schon die antiken Griechen wussten, dass sich ein regelmäßiges Dreieck konstruieren lässt. Gleiches gilt für ein Quadrat, denn n = 4 ist eine Zweierpotenz. Da fünf wieder eine Fermat-Primzahl ist (\(2^{2^1} + 1\)), ist auch ein regelmäßiges Pentagon möglich. Sechs ist ein Produkt von 2 und der Fermat-Primzahl 3, also ebenfalls kein Problem. Bei sieben Ecken stößt man auf das erste, nicht konstruierbare regelmäßige Polygon. Sieben ist zwar eine Primzahl, aber keine Fermat-Primzahl. Gleiches gilt für 11 und 13 – auch solche regelmäßigen Vielecke lassen sich nicht umsetzen.
Damit hängt die Vielfältigkeit der konstruierbaren Polygone entscheidend von der Anzahl an Fermat-Primzahlen ab. Von denen scheint es nicht allzu viele zu geben: Bisher sind nur 5 Fermat-Primzahlen bekannt, nämlich für k = 0, 1, 2, 3 und 4. Sie lauten: 3, 5, 17, 257 und 65 537. Die meisten Fachleute vermuten, dass das auch die einzigen sind. Das würde bedeuten, dass das 65 537-Eck das größte regelmäßige Polygon ist, dessen Ecken einer Fermat-Primzahl entsprechen und das sich mit Zirkel und Lineal zeichnen lässt.
Und nichts Geringeres nahm sich der Gymnasiallehrer Johann Gustav Hermes 1879 vor. Er wollte es als Erster schaffen, tatsächlich alle nötigen Rechenschritte durchzugehen, um ein 65 537-Eck mit Zirkel und Lineal zu erzeugen. Er brauchte länger als zehn Jahre, um alle Berechnungen auszuführen. Mehr als 250 eng beschriftete Seiten umfasste seine Abhandlung, für die er extra einen Holzkoffer nach Maß anfertigen ließ. Damit reiste er nach Göttingen, dem damaligen Hotspot für Mathematik – doch die Leute vor Ort schenkten ihm kaum Aufmerksamkeit. Es war ja schön, dass er sich all die Mühe gemacht hatte; aber dass das 65 537-Eck konstruierbar ist, wusste man seit mehr als 100 Jahren.
Hermes ist nicht der Einzige, dem der Ruhm für seine Arbeit verwehrt blieb. Auch Wantzel, der den Beweis von Gauß vervollständigte, erhielt zu Lebzeiten dafür keine Anerkennung. Erst ein knappes Jahrhundert später tauchte Wantzels Name erstmals in mathematischen Arbeiten auf. Und auch Hermes' Koffer inklusive Inhalt rückte erst später in den Fokus der Öffentlichkeit. Damit waren diese beiden Personen ebenfalls ihrer Zeit voraus – wenn auch nicht mehrere tausend Jahre wie Euklid.
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